POLITIK | Assistenzbeitrag – Bremsen endlich lösen
Der Assistenzbeitrag soll Menschen mit Behinderung ein Leben zu Hause ermöglichen. Das ist gut gemeint, wurde jedoch nicht zu Ende gedacht: Das heutige Arbeitgebermodell ist eine Stolperfalle und schliesst zu viele Menschen aus. Das muss jetzt ändern.
Seit gut 7 Jahren gibt’s den Assistenzbeitrag. Er ermöglicht es Menschen mit Behinderung, eine oder mehrere Assistenzpersonen anzustellen, damit Sie zu Hause leben können.
"Was in der Theorie super tönt, ist in der Praxis recht knarzig."
Der Assistenzbeitrag ist an ein Arbeitgebermodell geknüpft. Das heisst, Menschen mit Behinderung können resp. müssen Assistenzpersonen selber anstellen. Finanzielle Unterstützung gekoppelt mit dem Grundsatz «Empowerment» von Menschen mit Behinderung. Was in der Theorie super tönt, ist in der Praxis recht knarzig.
Probleme bei der Umsetzung
Der Assistenzbetrag ist eine gut gemeinte Idee, die leider nicht zu Ende gedacht wurde. Dass nur eine geringe Anzahl von Menschen den Assistenzbeitrag nutzt, ist vor allem auf die Zugangshürden und den Aufwand bei der Abrechnung der Assistenzleistungen zurückzuführen.
"Das Arbeitgebermodell erfordert volle kognitive Fähigkeiten und psychische Stabilität."
Das Arbeitgebermodell erfordert volle kognitive Fähigkeiten und psychische Stabilität. Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung nutzen den Assistenzbeitrag weit stärker als Menschen mit psychischer oder kognitiver Beeinträchtigung.
Die heute geltenden Voraussetzungen für die Gewährung des Assistenzbeitrags fördern die einen und schliessen die anderen aus. Ein Beispiel: Eine eingeschränkt handlungsfähige Person, die noch in einer Institution lebt, «nur» über eine Praktische Ausbildung PrA verfügt oder in einer Werkstätte arbeitet und keinen Intensivpflegezuschlag vorweisen kann, ist vom Assistenzmodell ausgeschlossen.
"Es entsteht der falsche Eindruck, dass Assistenzbeitrag und Institution sich entgegenstehen."
Nachteile für soziale Institutionen
Jeglicher Berührungspunkt mit einer Institution wird im geltenden Assistenzmodell unverhältnismässig «abgestraft». Es entsteht der falsche Eindruck, dass Assistenzbeitrag und Institution sich entgegenstehen. Doch:
- Arbeit stiftet Identität und ist deshalb wichtiger alsdie Frage,wo Arbeit oder Ausbildungstattfinden.
Die heutige Voraussetzung «Arbeit oder Ausbildung im regulären Arbeitsmarkt» schliesst jedoch alle Personen vom Assistenzbeitrag aus, die aktuell keinen Job im regulären Arbeitsmarkt finden oder keine Ausbildung nach Berufsbildungsgesetz absolvieren können. - Der Assistenzbeitrag behindert den Übergang vom Wohnen in einer Institution zum Leben im eigenen Haushalt.
Die heutige Voraussetzung «Wohnen zu Hause oder eigener Haushalt» erschwert die Durchlässigkeit zwischen verschiedenen Wohnmodellen. Die Begleitung von Personen ins selbständige Wohnen wird abrupt unterbrochen, sobald die betreffende Person eine eigene Wohnung mietet.
"Der Assistenzbeitrag ist noch stark von einer fürsorgerischen Denke geprägt. Das muss sich ändern."
Neue Denke beim Assistenzbeitrag gefragt
Der Assistenzbeitrag ist noch stark von einer fürsorgerischen Denke geprägt: Ambulante Unterstützung zur Förderung einer selbstständigen Lebensform für Menschen, die kognitiv und psychisch dazu in der Lage sind. Und stationäre Unterstützung für alle anderen.
Dies degradiert nicht nur Menschen in zwei Klassen, sondern determiniert auch die Rolle von sozialen Institutionen als Auffangbecken ohne Entwicklungsmöglichkeiten. Das muss sich ändern.
INSOS-Forderungen zum Assistenzbeitrag
Der Assistenzbeitrag könnte einiges mehr bewirken, wenn die heutigen Bremsen endlich gelöst würden. INSOS Schweiz fordert deshalb:
- eine Öffnung des Assistenzbeitrags: Neben dem Arbeitgebermodell soll der Bund auch ein Delegationsmodell (Arbeitgeberrolle wird delegiert an eine natürliche Person) und ein Dienstleistungsmodell (Leistungen im Auftragsverhältnis beziehen) zulassen.
- Tiefere Eintrittshürden: Der Bezug einer Hilflosenentschädigung und das „Wohnen zu Hause“ (resp. Übergang zum Wohnen im eigenen Haushalt) sollen die einzigenAnspruchsvoraussetzungen für die Gewährung des Assistenzbeitrags darstellen.
- Korrekte Abrechnung: Keine pauschale Kürzung, sondern nur Anrechnung der tatsächlich in Anspruch genommenen institutionellen Dienstleistungen, vor allem im Bereich der alltäglichen Lebensverrichtungen.
- Geringere Reduktion bei der Inanspruchnahme institutioneller Leistungen: Kürzung bezogener Leistungen um 7% / 14% statt der heute gültigen 10% / 20% (pro Tag / pro Tag und Nacht). 7% / 14% basiert auf der 7-Tage-Woche. Der heutige Prozentsatz zur Kürzung ist nicht plausibel begründbar.
Diskussionspapier
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