ENTSCHEID PRESSERAT | «Die Zeit» hat im Artikel «Ich will heim!» die Wahrheitspflicht verletzt
ARTISET und CURAVIVA nehmen mit Genugtuung zur Kenntnis, dass der Schweizer Presserat ihre Beschwerde gegenüber der Schweizer Ausgabe der Wochenzeitung «Die Zeit» teilweise gutgeheissen hat. Das Gremium zur Selbstregulierung der Medienbranche hält mit Deutlichkeit fest, dass im Artikel «Ich will heim! Erfahrungsbericht aus dem Pflegeheim» gegen die erste Pflicht der Journalist:innen verstossen wurde: die Pflicht zur Wahrheitssuche.
Im als Erlebnisbericht deklarierten Artikel vom 22. Dezember 2022 schildert die Autorin unter einem Pseudonym schwere Missstände in einem Schweizer Pflegeheim, ohne die persönliche Wahrnehmung systematisch zu überprüfen und ohne die Heimleitung mit ihren Vorwürfen zu konfrontieren.
ARTISET und CURAVIVA intervenierten umgehend beim Chefredaktor für die Schweizer Ausgabe von «Die Zeit», ohne jedoch Gehör zu finden. Daraufhin reichten ARTISET und CURAVIVA Beschwerde beim Presserat ein. Der Rat hat die Beschwerde im Dezember 2023 teilweise gutgeheissen: «Die Zeit» hat mit dem Artikel «Ich will heim!» die Ziffer 1.1 der Richtlinien zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» und damit die Pflicht zur Wahrheitssuche verletzt.
Entscheid mit Signalwirkung
ARTISET und ihr Branchenverband CURAVIVA sind erleichtert über den Entscheid des Presserats. Sie werten die Deutlichkeit dieses Ergebnisses als Appell an die Medienschaffenden, sich in jedem Fall der Wahrheitssuche zu verpflichten. Der Entscheid wurde nicht nur auf der Webseite des Presserats veröffentlicht, sondern auch allen Medienredaktionen in der Schweiz direkt zugestellt. Der Presserat hat zwar keine Sanktionsmöglichkeiten, seine Stellungnahmen haben aber grosse Signalwirkung.
Aus der Stellungnahme des Presserats: Verletzung der Wahrheitssuche
- «Kaum gestützt ist hingegen die Aussage der Autorin, dass die Heiminsassen in ihrem Heim durch stark sedierende Medikamente ruhiggestellt worden seien. Um ihre Aussage zu belegen, schildert sie das Beispiel einer Frau, die einzig am Besuchstag ihrer Tochter bei Kräften gewesen sein soll. An den anderen Tagen würde sie schlaff im Rollstuhl hängen. Um ihre These zu untermauern, stellt die Autorin keine weiteren Recherchen an und konfrontiert die Heimleitung nicht mit ihrem schweren Verdacht. Somit werden mögliche (krankheitsbedingte) Erklärungen gar nicht erst in Betracht gezogen. Die Autorin stützt sich einzig auf ihre Beobachtung, ohne die Hintergründe der Pflegebedürftigkeit der Frau zu kennen. Das widerspricht der Wahrheitssuche. Somit ist hier Richtlinie 1.1 der “Erklärung” verletzt.»
- «Ähnlich verhält es sich mit dem beschriebenen Fall, in dem ein Arzt eine Frau ins Pflegeheim schickte, damit sie für eine OP zu Kräften komme. Gemäss der Autorin verliere sie dort aber nur an Gewicht. Auch schreibt sie, dass die Putzequipe pflegerische Aufgaben übernehme. Das sind allesamt Vorwürfe, mit denen die Heimleitung nicht konfrontiert wurde und von denen nicht klar ist, inwiefern die Autorin deren Wahrheitsgehalt überprüft hat. Auch hier ist somit Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) verletzt.»
ARTISET und CURAVIVA hatten weitere Verletzungen der Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten geltend gemacht. Diese wurden vom Schweizer Presserat jedoch nicht bestätigt.
Zur vollständigen Stellungnahme des Schweizer Presserats
Funktion des Presserats
Als nicht juristische Beschwerdeinstanz wacht der Presserat über die Einhaltung des für alle Journalist:innen gültigen Journalistenkodex, der «Erklärung der Pflichten und Rechte». Der Rat garantiert die freiwillige Selbstregulierung der Medienbranche, trägt zur Reflexion und Diskussion über grundsätzliche medienethische Themen bei und verteidigt die Presse- und Meinungsäusserungsfreiheit.
Zur Tätigkeit des Schweizer Presserats
Zur Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten
Zu den Richtlinien zur Erklärung
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