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Selbstbestimmte Sexualität in institutionellen Wohnangeboten

31. Juli 2019 / Samuel Häberli
Das Recht auf eine selbstbestimmte Sexualität kann aus verschiedenen Artikeln der UN-Behindertenrechtskonvention abgeleitet werden. Institutionen sind demnach gefordert, passende Rahmenbedingungen zu schaffen, um den von ihnen begleiteten Menschen eine möglichst selbstbestimmte Sexualität zu ermöglichen. Grundlegend ist die Entwicklung einer klaren Haltung, die erst durch eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema entwickelt werden kann.

Bedürfnisse stehen im Zentrum

Menschen mit Unterstützungsbedarf sollen ihre Sexualität nach ihren eigenen Vorstellungen leben können. Das Äussern von Wünschen und Bedürfnissen kann aber aus vielfältigen Gründen erschwert sein.

In der Begleitung müssen Fachpersonen daher ein Bewusstsein entwickeln für mögliche Barrieren wie z.B.

  • eine mangelnde Privatsphäre aufgrund einer dauernden Präsenz Dritter
  • behinderungsbedingt begrenzte Körperfunktionen, die das Entdecken der eigenen Sexualität einschränken oder verunmöglichen
  • ein überbehütendes Setting, welches das Lernen erschwert, eigene Bedürfnisse wahrzunehmen und mitzuteilen
  • eine behinderungsbedingte Einschränkung der Wahrnehmung oder Verbalisierung eigener Bedürfnisse

Die Sexualität der begleiteten Personen ist ihr höchstpersönliches Gut. Diesem Umstand müssen Fachpersonen Rechnung tragen. Dies bedingt eine individuelle Herangehensweise und eine grosse Sensibilität.

Klarheit und Transparenz durch konzeptuellen Rahmen

Institutionen erbringen ihre Leistungen in einem komplexen Netzwerk. Zu diesem gehören neben den begleiteten Menschen z.B. Angehörige und gesetzliche Vertretungen, die eigenen Fachpersonen der Institution und Dritte wie etwa Behörden.

Bei einem sensiblen Thema wie Sexualität kann dies zu unterschiedlichsten Forderungen führen. Spannungsfelder sind unvermeidbar. Institution können ihnen aber mit entsprechenden Rahmenbedingungen und Konzepten begegnen. Die dadurch geschaffene Klarheit und Transparenz ist für alle wichtig.

Eine zentrale Rolle kommt zudem der Leitungsebene zu. Ohne ihre Initiative kann keine Kultur entstehen, in der Sexualität als eine positive Lebenskraft wahrgenommen wird.

Aufklärung als Schlüssel zu sexueller Gesundheit

Sexualität ist nicht statisch, sondern ein lebenslanger Entwicklungsprozess. Für die meisten Menschen spielt sie während des ganzen Lebens eine wichtige Rolle. Bedeutend für das Wohlbefinden ist in diesem Zusammenhang die sexuelle Gesundheit eines Menschen.

"Fachpersonen dürfen Wissen und Kompetenzen hinsichtlich Sexualität bei den begleiteten Menschen niemals einfach als gegeben annehmen."

Damit ist weit mehr gemeint als die Abwesenheit von Krankheiten oder Gebrechen. Es geht um den positiven und respektvollen Umgang mit Sexualität und sexuellen Beziehungen. Eine zentrale Rolle spielt dabei unter anderem die Sexualaufklärung.

Auch wenn wir Aufklärung häufig mit Kindern und Jugendlichen assoziieren, kann sie auch für Institutionen im Erwachsenenbereich eine wichtige Rolle spielen. Fachpersonen dürfen Wissen und Kompetenzen hinsichtlich Sexualität bei den begleiteten Menschen niemals einfach als gegeben annehmen. Vielmehr ist es ihre Aufgabe, Sexualaufklärung proaktiv anzubieten.

Entsprechendes Fachwissen ist dabei Voraussetzung. Neben spezifischem Unterrichtsmaterial können auch Dienstleistungen von Sexualpädagoginnen und -pädagogen sowie von Fachorganisationen wie z. B. Sexuelle GesundheitSchweiz in Anspruch genommen werden.

Fachwissen und Selbstreflexion als Voraussetzung

Die Sexualität jedes Menschen ist geprägt durch seine Wert- und Moralvorstellungen und seine Erfahrungen. Diese dürfen den begleiteten Menschen nicht «übergestülpt» werden.

"Hilfreich ist ein umfassendes Verständnis von Sexualität und ihren Facetten wie z.B. sexuelle Orientierungen und geschlechtliche Diversität."

Fachpersonen sind hier gefordert, ihre eigene Haltung zu reflektieren. Es gilt dabei zu respektieren und zu akzeptieren, dass die begleiteten Personen ihre Sexualität nach ihren eigenen Vorstellungen leben möchten.

Hilfreich ist ein umfassendes Verständnis von Sexualität und ihren Facetten wie z.B. sexuelle Orientierungen und geschlechtliche Diversität. Eine Institution kann die entsprechende fachliche Qualifikation seiner Mitarbeitenden beispielsweise über Aus- und Weiterbildungen sicherstellen.

"Allem Wissen zum Trotz kann auch eine Fachperson in der Begleitung an ihre Grenzen kommen."

Allem Wissen zum Trotz kann auch eine Fachperson in der Begleitung an ihre Grenzen kommen. In diesen Momenten braucht es eine klare und offene Kommunikation. Oftmals lassen sich einzelne Aufgaben auch an ein anderes Teammitglied übertragen.

Wenn es sich um Aufgaben handelt, die das Team nicht wahrnehmen darf, ist die notwendige fachliche Unterstützung extern zu organisieren.

Facetten der Sexualität

Das Leben von Sexualität hat viele Facetten. Es setzt nicht zwingend eine Partnerin oder einen Partner voraus. Allerdings stehen begleitete Menschen häufig in einem Abhängigkeitsverhältnis: Ohne Hilfestellungen können sie ihre Sexualität nicht oder nur eingeschränkt leben.

In der Begleitung ist die Auseinandersetzung mit Themen wie:

  • Selbstbefriedigung,
  • Pornografiekonsum,
  • Sexualbegleitung,
  • Sexualassistenz
  • und Sexarbeit

daher eine wichtige Aufgabe.

"Die Grenzen der Begleitung sind klar: Das Personal in Institutionen ist niemals an sexuellen Handlungen beteiligt."

Handlungsleitend sind in jedem Fall die Bedürfnisse des begleiteten Menschen, nicht die persönlichen Vorstellungen der Fachperson.

Die Grenzen der Begleitung sind klar: Das Personal in Institutionen ist niemals an sexuellen Handlungen beteiligt. Wenn angezeigt, können Fachpersonen aber Unterstützung bei der Organisation sexueller Dienstleistungen bieten.

Bei Bedarf vertreten sie dabei die Anliegen der begleiteten Personen gegenüber den Angehörigen, den gesetzlichen Vertretungen und gegenüber der Institution.

Sorgfalt und Respekt als Grundlage

Sexualität hat das Potential zu einer positiven Lebenskraft. Die Bearbeitung in der Institution bedingt Sorgfalt, Einfühlungsvermögen und Respekt.

Das heisst aber nicht, dass Schattenseiten wie z.B. Übergriffe ausgeblendet werden dürfen. Im Gegenteil: Aspekte der Prävention müssen zwingend Berücksichtigung finden und fortlaufend bearbeitet werden.

"Es ist die Aufgabe jeder Institution, sich mit Sexualität in ihren vielen Facetten auseinanderzusetzen."

Es ist die Aufgabe jeder Institution, sich mit Sexualität in ihren vielen Facetten auseinanderzusetzen. Nur so können Unsicherheit und Ängste abgebaut werden, die dazu führen, dass Sexualität in der Institution tabuisiert wird.

Jeder Mensch, unabhängig von seinen persönlichen Voraussetzungen, hat das Recht auf ein möglichst selbstbestimmtes Leben. Dies schliesst auch mit ein, als sexuelles Wesen wahrgenommen und respektiert zu werden.

Wird diese Haltung in der Begleitung gelebt, ist ein wichtiger Schritt hin zu einer selbstbestimmten Sexualität in institutionellen Wohnangeboten getan.

Links und Hinweise

 

Über diesen Artikel

Dieser Blogbeitrag basiert auf dem gleichnamigen Fachartikel in der Zeitschrift 4/2019 der Stiftung Schweizer Zentrum für Heil- und Sonderpädagogik.
Zur Zeitschrift von SZH

 

Sexuelle Gesundheit Schweiz

Der Verein Sexuelle Gesundheit Schweiz ist der Zusammenschluss von Beratungsstellen, Fachorganisationen und Fachpersonen, die im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit in der Schweiz tätig sind.
Zur Website von Sexuelle Gesundheit Schweiz

 

Leitfaden Sexualität, Intimität und Partnerschaft

Die Broschüre ist ein reichhaltiger Leitfaden für die Begleitung von Menschen mit Behinderung in institutionellen Wohnformen zum Thema Sexualität, Intimität und Partnerschaft.
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Photo: iStock / Olga Danylenko

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