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Recht auf Leistungen der Behindertenhilfe im Alter

19. November 2020 / Elisabeth Seifert
Wer einen behinderungsbedingten Unterstützungsbedarf hat, kann auch im AHV-Alter Leistungen der Behindertenhilfe beantragen. Zu diesem Schluss kommt das Verwaltungsgericht des Kantons Basel-Stadt und setzt damit ein Zeichen für die ganze Schweiz.

Seit vielen Jahren wird Andrea Lorenz*, die seit ihrer frühen Kindheit mit einer Autismus-Spektrum-Störung lebt, vom Basler Verein Abilia im Rahmen eines Tagesstrukturangebots begleitet und betreut. Während all dieser Jahre wohnte Anna Lorenz bei ihrer Mutter.

In den letzten zehn Jahren fiel es der älter werdenden Mutter zusehends schwerer, ihre Tochter zu unterstützen. Da sie aber selbst für ihr Tochter sorgen wollte, wartete sie damit zu, beim Kanton einen Kostenübernahmegesuch für eine ständige Betreuung in der Abilia zu stellen.

Um den juristischen Handlungsbedarf zu klären, zog die Familie den Fall weiter.

Dennoch, und ohne Gelder der Behindertenhilfe in Anspruch zu übernehmen, übernachtete Andrea Lorenz ein- oder zweimal wöchentlich in einem Wohnhaus der Abilia. Mit dem Kostenübernahmegesuch indes wartete die Mutter so lange zu, bis es zu spät war – jedenfalls aus Sicht der aktuellen Behindertengesetzgebung im Kanton.

Zwischen Stuhl und Bank

Als die Mutter respektive der Bruder und Beistand schliesslich im Juli 2017 das Gesuch beim zuständigen Amt für Sozialbeiträge stellten, hatte Andrea Lorenz nämlich bereits das AHV Alter erreicht. Und damit ist vor allem das Amt für Langzeitpflege für sie zuständig – und nicht mehr die Behindertenhilfe.

Als Person mit Behinderung gilt sie nur noch für die unmittelbar vor Eintritt in das AHV-Alter bezogenen Leistungen der Behindertenhilfe. Sie hat aber keinen Anspruch mehr auf neue Leistungen. Bei einem altersbedingten Anstieg des Pflegebedarfs ist dann – ganz im Sinne des Normalisierungsprinzips – der Übertritt in eine Pflegeeinrichtung möglich, wie bei Menschen ohne Behinderung auch.

Das Kostenübernahmegesuch für eine stationäre Betreuung in der Abilia wurde entsprechend abgelehnt.

Das Kostenübernahmegesuch für eine stationäre Betreuung in der Abilia wurde entsprechend abgelehnt. Damit aber fiel Andrea Lorenz rechtlich gleichsam zwischen Stuhl und Bank. Sie ist auf umfassende, betreuerische Unterstützung angewiesen, das war und ist unbestritten. Ein Pflegeheim kommt dafür aber nicht infrage, weil sie nicht pflegebedürftig ist. Und eine Behinderteninstitution kommt nicht infrage, weil sie die entsprechend notwendigen Leistungen nicht vor Erreichung des AHV-Alters bezogen hatte.

Um den juristischen Handlungsbedarf zu klären und eine rechtliche Regelung zu erwirken, zog die Familie den Fall weiter. Sie rekurrierte, vertreten durch einen Anwalt, gegen den negativen Entscheid des Amtes für Sozialbeiträge beim Departement für Wirtschaft, Soziales und Umwelt, das den Rekurs mit Verweis auf die kantonale Gesetzgebung abwies. Daraufhin wurde sie beim Regierungsrat vorstellig, der seinerseits den Rekurs dem Verwaltungsgericht weiterleitete. Seit Ende April dieses Jahres liegt das Urteil vor. Ein Urteil, das über Basel hinaus zu reden geben dürfte.

Verstoss gegen die Bundesverfassung

Das Urteil attestiert den Behörden zunächst, dass sie entsprechend der kantonalen Gesetzgebung richtig gehandelt haben: «Die Rekurrentin erfüllt die Voraussetzung des tatsächlichen Leistungsbezugs vor dem Erreichen der Altersgrenze der AHV unbestrittenermassen nicht», heisst es in der schriftlichen Urteilsbegründung.

Das Gericht gibt allerdings zu bedenken, dass der Wohnbetreuungsbedarf der Rekurrentin nicht erst im AHV-Alter aufgetreten ist. «Es handelt sich vielmehr um einen behinderungsbedingten Bedarf, den die betagte Mutter der Rekurrentin bisher hat erfüllen können, nun dazu aber in der Folge ihres Alters nicht mehr in der Lage ist.» Es sei «davon auszugehen», schreibt das Gericht, «dass eine individuelle Bedarfsabklärung bereits vor dem Eintritt des AHV-Alters bei der Rekurrentin einen Anspruch auf Leistungen im Lebensbereich Wohnen ergeben hätte, soweit dieser nicht von der Familie bzw. der abilia über nicht direkte Kantonsbeiträge abgedeckt worden wäre».

Das Gericht nimmt auf das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung Bezug, das neben der direkten auch die indirekte Diskriminierung betrifft.

Mit dieser Argumentation lässt das Gericht durchblicken, dass die Behörden nach dem Buchstaben des Gesetzes und weniger nach dessen Sinn gehandelt haben. Entscheidender ist aber der Verweis auf übergeordnetes Recht. Konkret nimmt das Gericht auf das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung Bezug, das neben der direkten auch die indirekte Diskriminierung betrifft. Eine solche liegt dann vor, wenn eine Regelung Angehörige einer spezifisch gegen Diskriminierung geschützten Gruppe in ihren tatsächlichen Auswirkungen stark benachteiligt, ohne dass dies sachlich begründet wäre.

«Sachlich begründet ist die Unterscheidung danach, ob eine Person vor oder nach dem Erreichen der AHV-Altersgrenze behindert wird», heisst es im Urteil. Personen, die nach Erreichen der Altersgrenze psychische, geistige oder körperliche Defizite erlangen, «gelten auch sozialversicherungsrechtlich nicht als invalid oder behindert». Das AHV-Alter sei als Abgrenzungskriterium nicht grundsätzlich zu beanstanden.

«In der vorliegenden Konstellation widerspricht das Gesetz dem Diskriminierungsverbot.»

Das Gericht unterscheidet allerdings klar zwischen einem behinderungsbedingten und einem altersbedingten Unterstützungsbedarf – und kommt zum Schluss: «Es lässt sich nicht rechtfertigen, dass eine behinderte Person, deren behinderungsbedingter Bedarf schon lange vor dem AHV-Alter entstanden ist, keinen Anspruch auf Leistungen im Bereich Wohnen hat, obwohl ihr behinderungsbedingter Bedarf den altersbedingten Bedarf überwiegt, einzig, weil sie bis anhin vom familiären Umfeld betreut wurde». Indem der Wortlaut des kantonalen Behindertengesetzes auf den Bezug beziehungsweise Nicht-Bezug der Leistungen abstelle, «trifft er in unverhältnismässiger Weise Unterscheidungen, die sachlich nicht gerechtfertigt sind».

Der entsprechende Paragraf im kantonalen Behindertengesetz widerspreche «in der vorliegenden Konstellation» dem Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung und könne deshalb in diesem Fall «nicht zur Anwendung gelangen», schlussfolgert das Gericht. Es heisst den Rekurs der Familie von Andrea Lorenz gut, die entsprechenden negativen Entscheide der Behörden wurden aufgehoben – und zum Neuentscheid «im Sinne der Erwägungen» an das Amt für Sozialbeiträge zurückgewiesen.

Ähnliche Gesetze in den meisten Kantonen

Obwohl das Urteil des Verwaltungsgerichts nicht im Sinn der kantonalen Behörden ausgefallen ist, ist es von diesen nicht ans Bundesgericht weitergezogen worden. Grund: Das Verwaltungsgericht urteilt abschliessend über Angelegenheiten, die kantonales Recht betreffen. Hinzu kommt, dass das Gericht sein Urteil auf übergeordnetes Recht abstützt. Damit aber ist der Entscheid des Basler Verwaltungsgerichts zu einem Präjudiz auch für sämtliche ähnlich gelagerten Fälle in anderen Kantonen geworden.

Die meisten Kantone nämlich zahlen Personen im AHV-Alter nur dann Beiträge der Behindertenhilfe aus, wenn sie schon vor Erreichung des AHV-Alters die entsprechende Leistung in Anspruch genommen haben. Eine Ausnahme bildet der Kanton Aargau, allerdings erst mit dem neuen Betreuungsgesetz, das sich derzeit in der Schlussphase der parlamentarischen Behandlung befindet und ab 2022 in Kraft treten wird. Personen im AHV-Alter sollen künftig in eine stationäre Einrichtung für Menschen mit Behinderung aufgenommen werden können, sagt Peter Walther- Müller auf Anfrage der Fachzeitschrift Abteilung Sonderschulung, Heime und Werkstätten des Kantons Aargau. «Bedingung ist voraussichtlich, dass bereits vor Erreichen des AHV-Alters eine Behinderung vorlag, das heisst, eine IV-Rente bezogen wurde.»

Wenn die meisten Kantone heute gleichlautende gesetzliche Bestimmungen haben, dann deshalb, weil sich die kantonalen Gesetze im Bereich der Einrichtungen für Menschen mit Behinderung an der bis Ende 2007 für diesen Bereich zuständigen nationalen Gesetzgebung orientieren. Bis zur Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA) war die IV für die Finanzierung der Institutionen zuständig. Gemäss dem damals geltenden Gesetz über die Invalidenversicherung richtete die IV für Personen, die im AHV-Alter neu in ein IV-Wohnheim eintraten, keine Betriebsbeiträge aus.

Vor dem Hintergrund des Urteils des Basler Verwaltungsgerichts ist zu fragen, ob diese frühere bundesrechtliche Regelung in vergleichbaren Konstellationen nicht ebenfalls verfassungswidrig war. Zudem ist zu prüfen, ob die Bedingungen für aktuell von der IV finanzierte Leistungen der Behindertenhilfe wie die IV-Assistenzbeiträge angepasst werden müssen.

Speziallösungen für Einzelfälle

Da der Grundsatz, dass Personen im AHV-Alter nur Anspruch auf die bereits vor dem Erreichen des AHV-Alters bezogenen Leistungen der Behindertenhilfe haben, schon lang galt respektive gilt, ist auch die Problematik der Schnittstelle zwischen der Behindertenhilfe und der Langzeitpflege den zuständigen Behörden bekannt. In Basel genauso wie in den anderen Kantonen.

Da es sich aber – bis jetzt jedenfalls – um Einzelfälle handelte, die in aller Regel gelöst werden konnten, bestand gemäss den Behörden kein rechtlicher Handlungsbedarf. «Wir haben für alle diese Spezialfälle unter Einhaltung der geltenden gesetzlichen Regelungen immer eine Lösung gefunden», betont Antonios Haniotis, Leiter des Amtes für Sozialbeiträge des Kantons Basel-Stadt. Das wäre auch im Fall von Andrea Lorenz nicht anders gewesen.

Oft werden die Betroffenen dazu aufgefordert, vor dem AHV-Alter einen Antrag zu stellen.

Hört man sich in Kreisen der Behindertenhilfe etwas um, besteht die Lösung oft darin, dass die Betroffenen dazu aufgefordert werden, vor Erreichung des AHV-Alters einen entsprechenden Antrag zu stellen. Die Familie von Andrea Lorenz hat bewusst darauf verzichtet einer Speziallösung zuzustimmen, etwa mittels einer Finanzierung der stationären Betreuung über den Härtefallfonds. «Es war der Familie ein Anliegen nicht nur den eigenen Spezialfall zu lösen, sondern eine rechtliche Regelung zu erwirken», sagt Anwalt Simon Gass, der die Familie vor Gericht vertreten hat.

Unterstützt hat dieses Anliegen auch Rolf Müller, Vizepräsident von Curaviva Schweiz und bis vor wenigen Monaten Geschäftsleiter des Vereins abilia. «Behinderungsformen halten sich nicht an Alterslimiten», unterstreicht er. Deshalb sei «eine Leistungsreduktion aufgrund des Beginns des AHV-Alters nicht praxistauglich». «Zielführender wäre eine neue Konzeption der Finanzierungsregeln für alle Altersgruppen. So könnte zwischen entwicklungsbedingtem, teilhabebedingtem und altersbedingtem Unterstützungsbedarf unterscheiden werden.»

Bereits in der Vernehmlassung zum kantonalen Behindertengesetz vor einigen Jahren bezeichnete er respektive der Verband sozialer Unternehmen beider Basel den entsprechenden Gesetzesartikel als «inakzeptabel».

Kommt es zu einer Gesetzesänderung?

Ob und inwiefern es in Basel aufgrund des Urteils des Verwaltungsgerichts zu einer Anpassung des Gesetzes kommt, ist derzeit noch unklar. Der vor gut zwei Jahren angelaufene juristische Prozess wurde auch auf der politischen Bühne wahrgenommen. Für Grossrätin Michelle Lachenmeier (Grüne) bildete das Verfahren im Februar 2019 den Anlass für eine schriftliche Anfrage. In seiner Stellungnahme anerkennt der Regierungsrat einen gewissen Problemdruck, wenn er feststellt, dass die demografische Alterung auch bei Personen mit Behinderung fortschreitet. «Personen mit Behinderung werden immer älter und folglich gibt es auch immer mehr Personen mit Behinderung im AHV-Alter.»

Der Regierungsrat anerkennteinen gewissen Problemdruck, wenn er feststellt, dass die demografische Alterung auch bei Personen mit Behinderung fortschreitet.

Die Regierung hält weiter fest, dass der «klare Wortlaut» der aktuellen gesetzlichen Bestimmungen «keinen Spielraum» lasse – und kommt zum Schluss: «Damit Personen im AHV Alter, die bis zum Erreichen des AHV-Alters keine stationären Leistungen der Behindertenhilfe bezogen haben, Anspruch auf nicht-pflegerische, agogische Leistungen erhalten könnten, wäre eine Gesetzesänderung nötig.» Daraufhin reichten Michelle Lachenmeier und Mitunterzeichner Georg Mattmüller (SP) im November 2019 eine Motion ein, die die Regierung beauftragt, eine Gesetzesänderung vorzuschlagen.

«Der Regierungsrat steht dem Anliegen der Motion positiv gegenüber», heisst es in der Stellungnahme vom März 2020. Die Regierung wolle indes prüfen, ob es entsprechende Fälle gebe – und welche Massnahmen erforderlich seien. Es könne sich dabei um «Anpassungen auf Gesetzes- bzw. Verordnungsebene oder lediglich Anpassungen der bestehenden Praxis» handeln. Aus diesen Gründen beantragte die Regierung dem Parlament die Motion als Postulat zu überweisen.

Ein Antrag, dem der Grosse Rat am 10. Juni gefolgt ist. Die Regierung hat jetzt zwei Jahre Zeit, dem Parlament einen entsprechenden Vorschlag zu unterbreiten.

«Ich erwarte, dass die Regierung die rechtlichen Grundlagen anpasst und nicht einfach nur die bestehende Praxis», meint Michelle Lachenmeier, «dies gerade auch vor dem Hintergrund des Verwaltungsgerichtsurteils». Wenn die rechtlichen Grundlagen nicht angepasst werden, bestehe für die Betroffenen weiterhin Rechtsunsicherheit und sie seien auf den Goodwill der Behörden angewiesen. Ganz ähnlich meint Ratskollege Georg Mattmüller, der die Geschäftsstelle des Behindertenforums der Region Basel leitet: «Die Leistungslücke muss grundsätzlich geregelt werden, und das erfolgt idealerweise über eine rechtliche Regelung, entweder auf Gesetzes- oder Verordnungsstufe».

*Name von der Redaktion geändert

 
Elisabeth Seifert

Unsere Gastautorin

Elisabeth Seifert ist Chefredaktorin der Fachzeitschrift CURAVIVA

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Kommentare

  • Von Markus Brandenberger / 22. November 2020

    Wichtiges Urteil! Diese und ähnliche Fragen nicht auch mein Beitrag "Im Alter sind wir alle irgendwie behindert - sind wir das?" in der Denknetz-Publikation "Gutes Alter" (http://www.denknetz.ch/gutes-alter/) auf. Buch und Artikel können kostenlos heruntergeladen werden http://www.denknetz.ch/wp-content/uploads/2019/02/Inhalt_Gutes_Alter-ganz.pdf

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