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MITWIRKUNG | Mehrwert eines starken Werkstattrats

14. Mai 2021 / Anita Heinzmann
In Deutschland wählen Beschäftigte in Werkstätten für behinderte Menschen Werkstatträte als Interessenvertretung. Seit 2017 haben Werkstatträte auch Mitbestimmungsrechte. Jürgen Thewes, Vorstandsmitglied von «Werkstatträte Deutschland e. V.», und Viviane Schachler, Wissenschaftlerin an der Hochschule Fulda, erklären, wie die Mitbestimmung aktiv umgesetzt wird und was einen starken Werkstattrat auszeichnet.

Wie ist die Mitwirkung in Deutschland organisiert?

Viviane Schachler: In Deutschland gibt es in den Betrieben Gremien zur Interessenvertretung der Arbeitnehmer*innen, zum Beispiel Betriebsräte. Für Beschäftigte mit Behinderung in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) – kurz Werkstattbeschäftigte genannt – sind Werkstatträte eingerichtet. Alle vier Jahre wird in jeder WfbM ein Werkstattrat gewählt. Nur Werkstattbeschäftigte sind wahlberechtigt und können gewählt werden. Dies soll sicherstellen, dass die Beschäftigten mit Behinderung ihre Interessen selbst und unabhängig von den weiteren Mitarbeitenden einbringen können. In der Werkstätten-Mitwirkungsverordnung (WMVO) sind u.a. die Rechte und Pflichten der Werkstatträte sowie das Wahlprozedere geregelt.

Jürgen Thewes: In Deutschland sind Werkstatträte auf der Landesebene als Landesarbeitsgemeinschaften der Werktatträte (LAG WR) organisiert. Die LAG WR setzen sich aus gewählten Delegierten der Werkstatträte des jeweiligen Bundeslandes zusammen. Auf der Bundesebene haben sich alle 16 LAG WR zum Verein «Werkstatträte Deutschland e. V.» zusammengeschlossen. Der Vorstand des Vereins besteht aus Werkstattratsmitgliedern, so wie ich einer bin. Unsere Aufgabe auf Bundesebene ist es, die Interessen der Werkstattbeschäftigten gegenüber der Gesellschaft, der Politik und den Werkstätten zu vertreten. So sind wir zum Beispiel in Arbeitskreisen der Politik und der Bundesarbeitsgemeinschaft WfbM vertreten. Wir erstellen Positionspapiere und Stellungnahmen, aber auch Broschüren und Arbeitsmaterialien für Werkstatträte. Weiter organisieren wir Tagungen und Veranstaltungen. Ausserdem haben wir Kontakte zu Organisationen der Behindertenhilfe und -selbstvertretung im europäischen Ausland.

«Damit der Werkstattrat seine Arbeit gut machen kann, müssen alle an einem Strang ziehen.»

Wie sind die Mitbestimmungsrechte in Werkstätten entstanden?

Jürgen Thewes: Anfangs war dieVertretung der Werkstattbeschäftigten uneinheitlich und freiwillig organisiert. 2001 wurde dann die Werkstätten-Mitwirkungsverordnung (WMVO) verabschiedet, um ein einheitliches und verbindliches Regelwerk zu schaffen. Aber die WMVO sah nur unverbindliche Mitwirkungsrechte und keine Mitbestimmungsrechte wie bei Betriebsräten vor. Der grosse Unterschied zwischen der Mitwirkung und der Mitbestimmung ist, dass bei der Mitbestimmung gleichberechtigt entschieden wird. Trotz der Mitwirkungsrechte der Werkstattbeschäftigen hatte die Werkstatt bei allen Entscheidungen weiterhin das letzte Wort. 2010 haben die Werkstatträte entschieden, dass sich das ändern muss und gründeten einen Arbeitskreis. Schliesslich wurden im Jahr 2016 die Mitbestimmungsrechte für Werkstatträte in das Bundesteilhabegesetz aufgenommen und die WMVO geändert.

Viviane Schachler: Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) legt fest, dass Menschen mit Behinderung gleichberechtigte Arbeitnehmendenrechte besitzen und ebenso gleichberechtigte Rechte zur Partizipation. So war die Einführung der verbindlichen Mitbestimmungsrechte für Werkstatträte nicht nur zeitgemäss, sondern auch ein politisch geschickter Schachzug. Denn in der UN-BRK ist auch ein offener, integrativer und zugänglicher Arbeitsmarkt gefordert. Im Vorfeld des Bundesteilhabegesetztes gab es durch den UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung sogar die Aufforderung zur Abschaffung oder schrittweisen Auflösung der Werkstätten für behinderte Menschen. Insoweit war es politisch konsequent, der langjährigen Forderung von Werkstatträten nach Mitbestimmungsrechten endlich nachzukommen.

 

Welche Hürden gibt es in der Arbeit von Werkstatträten?

Jürgen Thewes: Es gibt immer Leute, vom Gruppenleiter bis zum Geschäftsführer, die dem Werkstattrat Steine in den Weg legen. Aber damit der Werkstattrat seine Arbeit gut machen kann, müssen alle an einem Strang ziehen. Eine weitere Hürde betrifft Dinge, die nicht von der Politik und den Kostenträgern, das sind die Träger der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe, geregelt werden. Das hat sich auch bei den Corona-Massnahmen gezeigt. Anders als in vielen anderen Bereichen wurde zunächst ein Ersatz für den ausgefallenen Lohn der Werkstattbeschäftigen vergessen. Weiterhin gibt es Probleme in der Umsetzung der Werkstättenmitwirkungsverordnung (WMVO). Viele Rechte, die wir laut dieser Verordnung haben, werden nicht in allen Werkstätten gut umgesetzt, zum Beispiel wird das Informationsrecht oft vergessen.

Viviane Schachler: Die Arbeit von Werkstatträten vor Ort und auf überregionaler Ebene ist nicht immer ausreichend finanziert. So berichten Werkstattratsmitglieder immer wieder, dass sie benötigte Mittel oder Unterstützung nicht bekommen. Eine weitere Hürde ist, dass noch nicht in allen Werkstätten angekommen ist, wie weitreichend die Rechte der Werkstatträte sind. So ist bisher nur in jeder dritten Werkstatt für behinderte Menschen eine Vermittlungsstelle eingerichtet. Aber eine Vermittlungsstelle ist für gleichwertige Verhandlungen zwischen Werkstattrat und Werkstattleitung notwendig.

«Werkstatträte haben sich Respekt verschafft und die Gesellschaft hat sich für ihre Themen geöffnet.»

Und welche Erfolgsstories gibt es?

Jürgen Thewes: Für «Werkstatträte Deutschland» war die Sicherung der Finanzierung ein grosser Erfolg. Hier gab es seit dem Bestehen des Vereins Probleme. Doch seit 2020 haben wir nun endlich eine gute und verbindliche Finanzierung, die direkt über die Kostenträger erfolgt. Auch die Anerkennung der Arbeit der Werkstatträte ist ein schöner Erfolg. Mittlerweile gibt es viele Nachfragen, zum Beispiel von Zeitungen, Gewerkschaften oder der Wissenschaft. Man merkt, Werkstatträte haben sich hier Respekt verschafft und die Gesellschaft hat sich für ihre Themen geöffnet.

Viviane Schachler: Manche Werkstatträte schliessen Betriebsvereinbarungen über die Arbeitsbedingungen mit der Geschäftsführung ab und bringen so viele gute Verbesserungen ein. Zum Beispiel, konnte ein Werkstattrat erreichen, dass Werkstattbeschäftigte halbe Urlaubstage nehmen können. Eine besonders schöne Nachricht war für mich im letzten Jahr, dass Roland Weber, der ehemalige Vorstandsvorsitzende von «Werkstatträte Deutschland», mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde. Zuvor wurde er von einem Werkstattrat für diese Auszeichnung vorgeschlagen. Dieses Beispiel zeigt wunderbar, dass Werkstatträte mit ihrem Engagement viel bewirken können und dass dies auch gesellschaftlich anerkannt wird.

 

Wo sehen Sie den Mehrwert eines starken Werkstattrats?

Jürgen Thewes: Ein starker Werkstattrat bringt nicht nur den Werkstattbeschäftigen einen Vorteil, sondern auch der gesamten Werkstatt. Zum Beispiel stört mich persönlich, dass Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) in der Gesellschaft oft als inklusionsfeindlich dargestellt werden, ohne dass die Kritiker*innen der WfbM mit den Werkstattbeschäftigten ernsthaft über deren Bedürfnisse gesprochen hätten. So entsteht ein falsches Bild von Werkstätten. Aber ein starker Werkstattrat kann solchen Darstellungen etwas entgegensetzen, denn durch den Rat können die Beteiligten ihre Bedürfnisse gegenüber den Kostenträgern, der Politik oder der Gesellschaft besser kommunizieren.

Viviane Schachler: Zum einen bietet die Arbeit eines starken Werkstattrats den Beteiligten die Möglichkeit für vielfältige Empowerment- und Lernprozesse, indem Menschen mit Behinderung ihr (Arbeits-)Umfeld aktiv gestalten. Auf diese Weise fördert die Arbeit im Werkstattrat den Erwerb von Handlungskompetenzen und schafft den Rahmen für Entwicklungspotentiale. Gerade am überregionalen Austausch der Werkstatträte lässt sich schön sehen, wie Werkstattbeschäftigte von und miteinander lernen. Zum anderen benötigen Werkstätten unbedingt einen starken Werkstattrat, wenn sie weiterhin ihre Berechtigung haben wollen. Denn Werkstätten sind im Rahmen der Inklusion und der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention dazu aufgefordert, sich zu sozialraumorientierten Dienstleisterinnen zu entwickeln. Werkstätten, die einen starken Werkstattrat haben, kommen diesem Ziel näher.

 

Welche Themen sind derzeit aktuell?

Jürgen Thewes: Das Lohnsystem für Werkstattbeschäftigte soll überarbeitet werden. «Werkstatträte Deutschland e.V.» hat dafür einen Vorschlag entwickelt, der sich  «Basisgeld für dauerhaft erwerbsgeminderte Menschen» nennt. Ausserdem begleitet uns das Thema Wahl in diesem Jahr. Zum einem stehen die nächsten Werkstattratswahlen an und zum anderen die Bundestagswahl. Für letztere erarbeiten wir derzeit Fragen, die wir an die Parteien senden. So können wir erfahren wie sie zu unseren Anliegen stehen. Und natürlich beschäftigt uns weiterhin das Thema Corona. Hier setzen wir uns dafür ein, dass Werkstätten als systemrelevant anerkannt werden und weiter geöffnet bleiben sowie dass der Lohn für die Werkstattbeschäftigten gesichert ist.

 

Was sind Ihre Zukunftswünsche für die Arbeit von Werkstatträten?

Jürgen Thewes: Ich wünsche den Schweizer Werkstätten eine so gute Selbstvertretungsstruktur wie in Deutschland und träume von einem europäischen Dachverband aller Werkstatträte. Denn viele Gesetze werden auf europäischer Ebene gemacht. Da wird ein europäischer Dachverband, der mit einer Stimme spricht, eher gehört als viele kleine Werkstattverbände.

Viviane Schachler: Ich wünsche allen Dienstleistungsanbieterinnen für Menschen mit Behinderung starke Werkstatträte, die selbstverständlich dazugehören und als Qualitätsmerkmal begriffen werden. Denn so ist eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe möglich, sowohl innerhalb als auch ausserhalb der Organisationen.

 

Bild: Jürgen Thewes (links) zusammen mit Elisabeth Kienel (Mitte), Vorsitzende der Landesarbeitsgemeinschaft der Werkstatträte Bayern (LAG WR Bayern) und Olaf Böhl, Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft der Werkstatträte Hamburg (LAG WR Hamburg) bei der Betreuung unseres Messestandes, Werkstätten:Messe der BAG WfbM, 2019, Nürnberg. Bildrechte: Uwe Niklas.

 

Unsere Gesprächspartner

Jürgen Thewes ist Mitglied im Vorstand des Vereins «Werkstatträte Deutschland e.v.»
Seit 1993 ist Thewes im Werkstattzentrum für behinderte Menschen (WZB) in Spiesen-Elversberg beschäftigt. 1995 wurde er das erste Mal in den Werkstattrat gewählt.
Seit 2011 ist Thewes im Vorstand von «Werkstatträte Deutschland» tätig.
Sein Spezialthema ist die internationale Vernetzung von Werkstatträten.
Weitere Infos: www.werkstatträte-deutschland.de

Viviane Schachler ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Fulda.
Viviane Schachler hat Soziale Arbeit studiert und in der Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung gearbeitet. Seit 2017 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Fulda. Frau Schachler hat ihre Dissertation über die Interessenvertretung in Werkstätten für behin-derte Menschen geschrieben, die an der Humboldt-Universität zu Berlin fast abgeschlossen ist.

Kommentare

  • Von Roland Weber / 25. Mai 2021

    Vielen Dank für die klarheit dieses Berichtes. Es ist gut beschrieben, das die Teilhabe am Arbeitsleben durch die Mitbestimmungs Rechte wirklich gut vorangekommen sind. Aber es ist genauso wichtig das eine änderung des Entgeltes in der WfbM kommen muss. Aber Bitte nicht auf der Ebene des Mindestlohnes, sonder das Basis Geld ist der richtige Weg. Denn damit kann eine Gesellschaftliche Teilhabe für ein selbst Bestimmtes Leben erreicht werden. Ihr macht eine Gute Arbeit, weiterhin viel Kraft dafür. Das Basisgeld ist hoffentlich das nächste Ziel. Schöne Grüße aus Nürnberg Roland Weber

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