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Mitwirkung 3 | Werden Institutionen Pioniere der Mitwirkung?

29. November 2019 / Barbara Lauber
Wenn Arbeitnehmende mit Behinderung künftig die Werkstättenangebote mitbestimmen, wird die Werkstättenkritik verpuffen. Davon ist Annina Studer, Verantwortliche Projekt Mitwirkung bei INSOS Schweiz, überzeugt. Interview.

INSOS hat ein Positionspapier zur Mitwirkung in Werkstätten veröffentlicht, eine Studie zum Thema durchgeführt und lädt im November zur Fachtagung «Mitbestimmen im Betrieb» ein. Weshalb hat das Thema Mitwirkung derart Priorität?

Annina Studer: Dafür gibt es drei Gründe. Erstens ist da die UN-Behindertenrechtskonvention, die in der Präambel und in Art. 27 Mitwirkung im Betrieb fordert und zeigt: Berufliche Teilhabeprogramme sind nur mit Mitwirkung zu legitimieren. Zweitens haben Nachbarländer wie Deutschland inzwischen sehr gut organisierte Arbeitnehmendenvertretungen. Das hat Vorbildcharakter. Und drittens sind die Werkstätten heute betriebswirtschaftlich geführte Privatunternehmen. Als KMU sind auch sie marktwirtschaftlichen Regeln und Pflichten unterworfen – zum Beispiel dem Mitwirkungsgesetz. Dieses Rahmengesetz gilt auch für Arbeitnehmende mit Behinderung in Werkstätten. Es räumt ihnen das Recht ein, eine Arbeitnehmendenvertretung zu fordern und Arbeitsbedingungen sozialpartnerschaftlich auszuhandeln.

 

Kann die Mitwirkung den Angeboten von Werkstätten auch eine Daseinsberechtigung verschaffen?

Ja! Kritiker werfen den Werkstätten vor, sie würden Angebote schaffen, die nicht den Bedürfnissen der Arbeitnehmenden entsprechen. Wenn Werkstätten nun ihre Unterstützungsangebote wie auch ihre Produkte und Dienstleistungen weitgehend gemeinsam mit Arbeitnehmenden entwickeln, wird echte berufliche Teilhabe möglich – und die Kritik läuft ins Leere.

«Institutionen für Menschen mit Behinderung sind prädestiniert, in der Mitwirkung eine Pionierrolle zu übernehmen.»


Weshalb haben sich in sozialen Institutionen Arbeitnehmendenvertretungen noch nicht durchgesetzt?

Zum einen musste zuerst das Bewusstsein wachsen, dass Arbeitnehmende mit Behinderung die gleichen Rechte und Pflichten haben wie jene ohne Behinderung. Zum andern entstehen Kosten, wenn Institutionen Arbeitnehmendenvertretungen nachhaltig aufbauen wollen. Sie sind darauf angewiesen, dass Bund und Kantone dafür genügend Ressourcen zur Verfügung stellen. Dann können die Institutionen Arbeitnehmende mit Behinderung «empowern», ihnen eine Assistenz bieten und Arbeitsausfälle kompensieren, die durch die Vertretung entstehen. Hinzu kommt: Eine wirksame Mitsprache kann Entscheidungsprozesse und damit die Organisation verlangsamen. Für die Institutionen ist das auch unternehmerisch eine Herausforderung.

 

Warum sollen die sozialen Institutionen trotz diesen Hindernissen mit der Mitwirkung vorwärts machen?

Weil sie es können! Im Gegensatz zu reinen Profitunternehmen sind sie schon heute darin Profis, Menschen zu fördern, zu befähigen und Teilhabe zu ermöglichen. Sie sind geradezu prädestiniert, in der Mitwirkung eine Pionierrolle zu übernehmen. Zudem hat die Schweizer Gesundheitsbefragung 2017 gezeigt: Der Stress nimmt ab und die Motivation zu, wenn Unternehmen Arbeitnehmende involvieren. Noch ein Grund, vorwärts zu gehen.

 

INSOS hat 17 Institutionen befragt, die Mitwirkung ermöglichen. Welche Form der Mitwirkung ist denn nun die beste?

Das eine richtige Modell gibt es nicht. Natürlich kommt eine Personalkommission, in der Arbeitnehmende mit und ohne Behinderung mitwirken, dem inklusiven Ansatz am nächsten. Doch entscheidend ist, wie es um die Mitwirkungschancen wirklich steht.

 

Woran erkennt man, ob Mitwirkung gelingt?

Eine gute Frage. Wir prüfen gerade, ob wir ein einfaches Instrument entwickeln wollen, das zeigt, wo eine Institution in der betrieblichen Mitwirkung steht. Entscheidende Faktoren sind:

  • Eine hohe Organisationsqualität: Es gibt ein möglichst unkompliziertes Reglement. Dieses äussert sich z.B. verbindlich zu Mitwirkungsmöglichkeiten, Aufgabenteilung, Schweigepflicht, Umgang mit Rollenkonflikten, Verbindlichkeit der Entscheide oder Informationsfluss.
  • Eine hohe Strukturqualität: Es gibt eine Arbeitnehmendenvertretung, die die Interessen aller Mitarbeitenden vertritt und sich regelmässig mit der Leitung trifft. In Kleinbetrieben kann auch eine externe Person diese Vertretung mit den Angestellten im Mandat übernehmen.
  • Eine hohe Inhaltsqualität: Das Gremium diskutiert nicht nur über eine neue Kaffeemaschine, sondern auch über Weiterbildung, Mitgestaltung der Arbeit, Löhne, neue Produkte oder Unterstützungsleistungen.

 

In Deutschland sind Arbeitnehmende mit Behinderung schon lange in Werkstatträten organisiert. Was können wir von Deutschland lernen?

Dank der Werkstätten-Mitwirkungsverordnung gibt es in Deutschland in jeder Werkstätte einen Betriebsrat, der überregional und national vernetzt ist. Die «Werkstatträte Deutschland» vertreten diese gegenüber der Bundesregierung. Dies zeigt: Gesetzliche Vorgaben können Klarheit schaffen und viel in Gang bringen.

«Mitwirkung darf keine Alibiübung sein. Sie erfordert ein neues Rollenverständnis, das sich nun entwickeln muss.»

 

Wie sieht in fünf Jahren die betriebliche Mitwirkung aus?

2024 soll es selbstverständlich sein, dass Arbeitnehmende im Betrieb mitwirken. INSOS unterstützt seine Mitglieder dabei mit Dienstleistungen, Instrumenten und Vernetzungsmöglichkeiten. Wir verfolgen keine gewerkschaftlichen Ziele. Wir wollen den Paradigmenwechsel unterstützen, der den Mitarbeitenden im Sinne der Inklusion die Definitionshoheit über die Angebotsentwicklung gibt. Dadurch legitimieren sich Werkstätten von selbst. Klar ist: Für die Leitungs- und Fachpersonen ist dies höchst anspruchsvoll.

 

Welche Hindernisse stehen im Weg?

Mitwirkung darf keine Alibiübung sein! Sie erfordert ein Umdenken und ein neues Rollenverständnis. Mitwirkung bedeutet einen Mehrwert für die Institutionen. Jetzt braucht es die Bereitschaft und den Mut aller, nicht nur von Mitwirkung zu sprechen, sondern sie gemeinsam umzusetzen.

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(Artikel "Werden Institutionen Pioniere der Mitwirkung?" - INSOS-Magazin)





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