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MITWIRKUNG | Mitwirkung in Integrationsbetrieben

31. August 2021 / A. Studer / A. Heinzmann / R. Brignoli
Arbeitnehmende mit Behinderungen in Unternehmen der beruflichen Integration haben durch das Mitwirkungsgesetz das Recht, sich im Betrieb einzubringen und sich zu organisieren.

Immer mehr Unternehmen der beruflichen Integration (Werkstätten) engagieren sich heute dafür, dass in ihrem Betrieb Mitwirkung über das Mitwirkungsgesetz* hinaus aktiv umgesetzt und gelebt wird. Sie stützen sich dabei auf ihren Kernauftrag der beruflichen Förderung und Inklusion im Sinn des IFEG und der UN-BRK (Artikel 26 und Artikel 27).

Im Rahmen des Aktionsplans der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) der Dachverbände INSOS Schweiz, CURAVIVA Schweiz und VAHS** lancierte INSOS Schweiz das Projekt Betriebliche Mitwirkung mit dem Ziel, eine Bestandesaufnahme zu machen, daraus einen Leitfaden für die betriebliche Mitwirkung zu erstellen, auf nationaler Ebene die Weiterentwicklung zu fördern und für das Thema zu sensibilisieren.

Zwischen Februar und Juni 2019 fanden in 17 Integrationsbetrieben in den verschiedenen Sprachregionen der Schweiz qualitative Interviews statt – mit Geschäftsleitungen Arbeitnehmenden mit und ohne Behinderung sowie Assistenzpersonen. Zentrale Fragestellungen waren:

  • Welche Mitwirkungsmodelle etablierten sich in den letzten Jahren in der Schweiz?
  • Welches Potenzial liegt in der Mitwirkung?
  • Wie vertreten Mitarbeitende mit Beeinträchtigung ihre Interessen in Werkstätten?

Einblicke in die Ergebnisse

Es existieren verschiedene Formen der Arbeitnehmendenvertretung. In zwei Betrieben bestehen Personalkommissionen, in denen Angestellte mit und ohne Behinderungen gemeinsam die Interessen vertreten. Zur klassischen Form gehört die getrennte Arbeitnehmendenvertretung. Weiter gibt es allgemeine Mitbestimmungsgefässe ohne Fokus auf betriebliche Mitwirkung. Hier rücken die spezifisch arbeitnehmerrechtlichen Fragen eher in den Hintergrund. Vor allem kleine Betriebe haben keine Arbeitnehmendenvertretungen, dafür aber gezielte Tools und Austauschgefässe zur Mitwirkung.

Der Spielraum der Mitwirkung liegt meist in denBereichen Information und Mitsprache. Entscheidungskompetenzen werden selten zugesprochen, jedoch zeigten Leitungsverantwortliche Offenheit und bemühen sich offensichtlich, Anliegen umzusetzen. So beschwerten sich z. B. in einer Institution Arbeitnehmende, dass die Kaffeemaschine für Rollstuhlfahrende nicht bedienbar sei. Die Leitung veranlasste unmittelbar die Anschaffung einer barrierefreien Maschine. In vielen von uns besuchten Betrieben bauten Leitungsverantwortliche proaktiv und aus Überzeugung die Gremien auf. Die Kosten für die Arbeitszeit, für Personalvertretungen und Unterstützungspersonen tragen die Unternehmen selbst.

Als besonders wichtiger Faktor für eine lebendige und effektive Mitwirkung wurde die personelle Unterstützung durch Assistenzpersonen für die Arbeitnehmendenvertretungen genannt. Diese verstehen sich als Prozessbegleiter*innen. Zu den Aufgaben der Assistenzpersonen gehören unter anderem die Protokollführung, die Sitzungsleitung, die Übernahme von organisatorischen Aufgaben, das Aufzeigen von Zuständigkeiten, das Diskutieren von Lösungswegen, die Mithilfe bei der Gruppenentwicklung und die Beratung. Es geht aber auch um Empowerment und darum, sukzessive Verantwortung an die Arbeitnehmendenvertreter*innen abzugeben.

Es lohne sich sehr, eine Assistenzperson einzusetzen, was aber für kleinere Unternehmen teilweise nicht finanzierbar sei, so ein Geschäftsführer. Auffallend sind die Loyalität zum Betrieb und die Konsensorientierung. Konflikte zwischen Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden finden nicht häufig statt, und die jeweiligen Interessen der Sozialpartner werden zugunsten der Betriebsloyalität zurückgesteckt. Die Identifikation mit dem Betrieb scheint meist sehr hoch. Arbeitnehmendenvertreter*innen berichten, dass der vertiefte Einblick in den Betrieb ein wichtiger Motivationsfaktor für die Kandidatur in eine Personalkommission gewesen sei. Mitwirkung sehen die verschiedenen Interviewpartner als Gewinn für den Betrieb. Sie habe eine positive Auswirkung auf die Betriebskultur.

Gezielter Wissenstransfer in die Breite

Mitwirkung kann erst in der Auseinandersetzung mit allen Systempartner*innen gedeihen. Darum führten wir im April 2019 ein erstes nationales Netzwerktreffen von Pionier*innen im Bereich Mitwirkung durch. Teilnehmende waren Arbeitnehmendenvertreter*innen mit und ohne Behinderungen aus Integrationsbetrieben, Assistenzpersonen sowie Vertreter*innen aus Wissenschaft, Gewerkschaft und Behindertenorganisationen.

Ausgewählte Ergebnisse erschienen als Schwerpunkt im INSOS-Magazin im Oktober 2019*** und werden in Kurzberichten aus Praxis und Wissenschaft in der Blogserie Mitwirkung vertieft.3 An der Fachtagung «Mitbestimmen im Betrieb» vom 14. November 2019 setzten sich 120 Personen mit und ohne Behinderungen mit den Forschungsergebnissen auseinander. Zum Beispiel wie der Zugang zu betrieblicher Mitwirkung für alle gewährleistet werden kann: Die Übersetzung von Schlüsselinformationen in Leichte Sprache ist nur eine von mehreren notwendigen Massnahmen. Handlungsbedarf zeigte sich bei der Befähigung, betriebliche Mitwirkung wahrzunehmen. Am zweiten Netzwerktreffen befassen sich die Teilnehmenden deswegen mit Weiterbildungsmöglichkeiten.

Handlungsempfehlungen

Als Hilfsmittel, um Mitwirkung aufzubauen und zu reflektieren, steht die Open-Access-Broschüre «Step by Step – In 10 Schritten zur Arbeitnehmendenvertretung» in Standardsprache und in Leichter Sprache auf Deutsch und Französisch allen Interessierten zur Verfügung. Die Broschüre kann auf www.insos.ch gratis heruntergeladen werden.

Sonderangebote in einer Gesellschaft, die inklusiv sein sollte, lassen sich nur legitimieren, wenn Menschen, für die diese Angebote geschaffen werden, diese mitgestalten und echte Partizipation gelebt wird. Gelingt es Arbeitnehmenden, sich zu organisieren und einzubringen, haben Mitgliederbetriebe die Chance, sich im Sinn der UN-BRK weiterzuentwickeln.

 

* Bundesgesetz über die Information und Mitsprache der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Betrieben vom 17. Dezember 1993 (Stand 1. Januar 2011).

** www.aktionsplan-un-brk.ch

*** INSOS Schweiz (Hrsg.). Mitbestimmen im Betrieb. INSOS-Magazin Nr. 59 2019


Weitere Artikel über Mitwirkung unter: www.blog.insos.ch.

 

Dieser Artikel wird in Zusammenarbeit mit REISO und SozialAktuell - Fachzeitschrift für Soziale Arbeit - angeboten.

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