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MITWIRKUNG | «Die Mitarbeitenden müssen geschult werden»

08. Dezember 2021 / Rocco Brignoli
Mitarbeitende mit Behinderung wollen sich in Integrationsunternehmen stärker einbringen. Dafür müssen sie aber wissen, wie Mitwirkung funktioniert. Eine Lösung sind angepasste Schulungen nach ihren Bedürfnissen. Wie die Weiterbildungen in Zukunft aussehen konnen, damit die Betroffenen lernen, aktiv zu werden und ihr Wort zu ergreifen, haben uns Anne-Sophie Kupper und Viviane Guerdan von ASA-Handicap mental im Interview verraten.

Wenn Sie sich die Integrationsbetriebe («die Werkstätten») anschauen, was ist dann Ihrer Meinung nach grundlegend, um die Mitwirkung von Mitarbeitenden mit Behinderung zu verbessern?

Um tatsächlich die Voraussetzungen für eine echte betriebliche Mitwirkung zu schaffen, müssen die Mitarbeitenden von Integrationsbetrieben offen über Missstände sprechen, ihre Zufriedenheit ausdrücken und Verbesserungsvorschläge bezüglich ihrer Arbeitsbedingungen oder der Arbeit an sich einbringen können.

Diese Art der Mitwirkung, wie sie in der UN-BRK hervorgehoben und von den Betroffenen eingefordert wird, ist nicht grundsätzlich gegeben. In der Realität sind sich die Mitarbeitenden oft nicht bewusst, welche Rechte sie haben und wie sie diese nutzen können. Oft fehlen ihnen für eine wirkliche Mitwirkung auch die Mittel.

Um dies zu ändern, müssen Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen für die entsprechenden Fragen sensibilisiert werden, denn trotz aller Schwierigkeiten wirkt sich die Förderung der gemeinschaftlichen Mitwirkung im Unternehmen vorteilhaft aus. Dies zeigt auch das Beispiel von Emmanuelle Raths, Leiterin und Delegierte bei der Genfer Stiftung Foyer-Handicap, die Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung anbietet. «Im Januar 2021 wurde bei uns aus den entsprechenden Personalkommissionen – das heisst, die Personalkommission und die Kommission für Mitarbeitende mit Behinderung sowie Bewohnerinnen und Bewohner –eine inklusive Arbeitsgruppe gegründet. Diesen Weg möchten wir ohne Einschränkung weiter beschreiten.»


Worin bestehen prinzipiell die grössten Herausforderungen für Mitarbeitende mit Behinderung?

Zunächst einmal besteht die Schwierigkeit darin, dass die einzelnen Mitarbeitenden nicht das Wort ergreifen. Oft ist ihnen nicht bewusst, dass sie ihre Meinung zum beruflichen Umfeld, in dem sie tätig sind, kundtun können, und wie wichtig dies ist. Und wenn sie es möchten, wissen sie meist nicht, wie sie ihrer Stimme Gehör verschaffen können. Eine gute Möglichkeit das zu ändern, ist die Schaffung von Kommissionen, in denen die Betroffenen sich äussern, gemeinsame Erfahrungen austauschen und sich organisieren können, um ihre Rechte geltend zu machen.

Aber auch wenn die Kommissionen mehr Gewicht als eine einzelne Stimme haben, ergeben sich Schwierigkeiten, insbesondere im Zusammenhang mit der Organisation der Gruppe und damit, wie man seinen Platz darin findet.

Und wird eine solche Gruppe gegründet, gilt es, sich auf die Interessen zu einigen, die man vertreten möchte. Hier muss man seine eigenen Interessen denen der Kommission unterordnen können. All diese Aspekte, von der Mitsprache bis zur Organisation innerhalb der Gemeinschaft, müssen erlernt werden, was den Betroffenen nicht immer ermöglicht wird.


Was ist Ihrer Meinung nach der beste Ansatz, um diesen Schwierigkeiten zu begegnen?

Eine der wichtigsten Lösungen im Umgang mit diesen Problemen ist, die Mitarbeitenden mit und ohne Behinderung darin zu schulen, was Mitwirkung bedeutet und wie diese erfolgen kann (Formen und Stufen der Mitwirkung). Dies ergab insbesondere das dritte Treffen  des Netzwerks für betriebliche Mitwirkung, das 2019 von INSOS ins Leben gerufen wurde.

Die Betroffenen haben klare Forderungen formuliert, nämlich leicht verständliche Schulungen, um ihre Kommunikation zu verbessern, und insbesondere technische Unterstützung, um Kurse am PC zu absolvieren. Sie wünschen sich, dass das gesamte Personal für die Schaffung der notwendigen Bedingungen sensibilisiert wird. Dadurch können Kommissionsmitglieder ihre Meinung kundtun, denn zu oft lassen die Betreuungspersonen die Mitarbeitenden mit Behinderung bei Sitzungen nicht zu Wort kommen.


Welche Art von Weiterbildung ist ideal, um Mitarbeitende zu befähigen, ihre Interessen gemeinschaftlich zu vertreten?

Künftig muss das Augenmerk auf Schulungen liegen, die den Mitarbeitenden nicht nur aufzeigen, was Mitwirkung bedeutet, sondern die ihnen auch Selbstvertrauen vermitteln, damit sie sich trauen, das Wort zu ergreifen und sich bei Entscheiden einzubringen. Und es braucht Lehrgänge, in denen die Betroffenen lernen, ihre persönlichen Interessen einem gemeinsamen Ziel unterzuordnen.

Ferner müssen die Mitglieder der Arbeitnehmervertretung auf Probleme vorbereitet werden, die sich aus der Vergemeinschaftung von Interessen ergeben. Und sie müssen mit Frust umgehen lernen, denn etwas zu ändern, erfordert viel Zeit und damit Geduld. Ausserdem müssen in den Schulungen Themen behandelt werden, die für die Kommissionen tatsächlich von Belang sein können.

Da Betriebskommissionen gemischt besetzt sein können, muss auch das Betreuungspersonal in den Prozess einbezogen werden.


Inwiefern kann Ihre Organisation, ASA-Handicap mental, zur Schulung von Mitarbeitenden mit Behinderung und Betreuungspersonal beitragen?

ASA-Handicap mental bietet mehrere Schulungen an (Adresse am Ende des Artikels), die von einer Kursleiterin oder einem Kursleiter mit Behinderung mitgeleitet werden. Diese Schulungen richten sich nicht nur an Menschen mit Behinderung, sondern auch an die Fachleute, die sie betreuen.

Bei ASA-Handicap mental sind wir sehr darauf bedacht, mit Kursleitenden zusammenzuarbeiten, die sehr auf eine passende Schulungsmethodik achten. Denn das zu vermittelnde Wissen ist eine Sache. Die Methoden, die zur Vermittlung dieses Wissens eingesetzt werden eine andere.

Aus einschlägigen Studien ist bekannt, dass bei der Wissensvermittlung immer vom aktuellen Wissensstand der Lernenden auszugehen ist, der sich aus deren Vorstellungen und Lebenserfahrungen ergibt. Vor diesem Hintergrund müssen die Lehrpersonen die Lernenden aktiv einbeziehen, damit diese sich ihres Wissens bewusst werden und man darauf mit neuem Wissen aufbauen kann. Die Schulungsinhalte an das Vorwissen der Teilnehmenden anzupassen, ist ein pädagogischer Grundsatz, der stets Beachtung finden muss. Statt Wissen einfach vorzutragen, ist vielmehr Wissensvermittlung gefragt, um einen Entwicklungsprozess zu fördern.

Ein weiteres bewährtes Prinzip, das ASA-Handicap mental verfolgt, ist die Gruppendynamik. Die Interaktion zwischen den Mitarbeitenden birgt grosses Potenzial für gegenseitiges Lernen. Das Denken und Wissen der einen trägt zum Aufbau von Know-How und Überlegungen bei den anderen bei. Die Kunst der Wissensvermittlung besteht also darin, die Interaktion zwischen den Teilnehmenden anzukurbeln, um sie zum Nachdenken anzuregen und das gegenseitige Lernen zu fördern.


Die Verbände haben Initiativen lanciert, die teilweise auf die Schwierigkeiten abzielen, mit denen die Mitarbeitenden und Sozialunternehmen konfrontiert sind. Wie können wir die Erarbeitung entsprechender Schulungen bestmöglich unterstützen, um diesen Ansatz fortzuführen?

Bezüglich Weiterbildungen spielen verschiedene Akteur:innen eine Schlüsselrolle, nämlich:

  • Die Institutionsleitungen, die ihren Bewohnerinnen und Bewohnern sowie den Betreuungspersonen nützliche Schulungen anbieten müssen. Ihre Rolle besteht darin, sich über die Marktentwicklung und innovative Projekte zur Förderung der Mitwirkung auf dem Laufenden zu halten und die nötigen Bedingungen zu schaffen, damit Kommissionen eingesetzt werden können.
  • Die Betreuungspersonen in den Institutionen müssen ebenfalls Weiterbildungen besuchen, sich Wissen aneignen, was Mitwirkung bedeutet, und die Rahmenbedingungen für Mitwirkung schaffen, um die Betroffenen im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit zu betreuen. Zudem müssen sie mit pragmatischen Ansätzen vertraut sein, mit denen sie die Kommissionen begleiten und bei ihrer Gründung unterstützen können, und mit denen sie sicherstellen können, dass ihrer Forderungen und Vorschläge diskutiert werden.
  • Die Behindertenorganisationen können einen Beitrag zur Weiterbildung leisten, indem sie Schulungsmöglichkeiten schaffen, die die Mitwirkung fördern. Ihre Aufgabe ist es, über das bestehende Weiterbildungsangebot zu informieren und mit den verschiedenen Akteur:innen in Kontakt zu treten.
  • Die Schulungszentren müssen ihr Weiterbildungsangebot zentralisieren, um diesem eine bessere Sichtbarkeit zu verschaffen und um zu gewährleisten, dass so viele wie möglich die nötigen Grundlagen erhalten, um sich in Unternehmen einbringen zu können.
  • Gewerkschaften mit ihren Erfahrungen in der Vertretung von Minderheiten oder von Personen mit geringer Entscheidungsmacht können interessante Kooperationspartnerinnen sein. Zum Beispiel könnten durch den Einfluss der Gewerkschaften, bestimmte Schulungsanforderungen abgeschafft werden. Doch hier stellen sich Fragen der Zusammenarbeit, denn die meisten Menschen mit Behinderung sind derzeit keine Gewerkschaftsmitglieder.
  • Die Mitarbeitenden mit Behinderung müssen Vertrauen in ihre Fähigkeiten entwickeln, einen Beitrag zum Geschehen im Unternehmen und zu den sie betreffenden Entscheiden leisten zu können. Dies beinhaltet auch die Zusammenarbeit in Gruppen, um gemeinsam mehr Einfluss auf die Arbeitsbedingungen auszuüben.
 

Unsere Ansprechpartnerinnen

Anne-Sophie Kupper, Programmleiterin Recht & Mitwirkung ASA-HM

Viviane Guerdan, wissenschaftliche Referentin und Ehrenpräsidentin ASA-HM

 

Das Schulungsangebot

Die Weiterbildungen von ASA-Handicap mental finden ausschliesslich auf Französisch statt. Eine Liste aller Schulungen finden Sie auf der Website von ASA-HM

In der Deutschschweiz führt Pro Infirmis Ostschweiz unter dem Namen Augenhöhe! inklusive Schulungen durch.

Augenhöhe! Weiterbildungsangebot


1) Lehrgang Selbstvertretung

Der Lehrgang Selbstvertretung ist für Teilnehmer*innen
mit leichter kognitiver Beeinträchtigung oder mit Lernschwierigkeiten.

Im Lehrgang lernt man sich selber und seine Rechte kennen.
Man lernt miteinander zusammenzuarbeiten und sich für sich selber einzusetzen.

Die Teilnehmer:innen bestimmen im Lehrgang selber, was sie lernen möchten.
Der Lehrgang hat 2 Module und dauert ein Jahr.

2) Lehrgang Unterstützt selbstbestimmt!

Den Lehrgang Unterstützt selbstbestimmt! besuchen Bewohner:innen von Institutionen,
die dort leben und arbeiten.
Sie besuchen den Lehrgang im Tandem mit einer Unterstützungsperson.
Die Teilnehmer:innen mit Beeinträchtigung lernen zu sagen, was ihnen wichtig ist.
Die Unterstützungspersonen lernen, sie darin zu begleiten und zu fördern.

Die Lehrgänge werden in der Ostschweiz über die Bildungsklubs angeboten.
Die Lehrgänge können für Werkstatträte eine wertvolle Weiterbildung sein.

Informationen bei:
Augenhöhe! Fachstelle zur Förderung von Selbstvertretung
Telefon 058 775 19 57
Mail: augenhoehe@proinfirmis.ch

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