Abstimmen für oder gegen eine Vorlage, seine politischen Vertreter*innen wählen oder selbst für ein Amt kandidieren: Das ist Mitwirkung. Doch dieses demokratische Grundrecht können Menschen mit Behinderung nicht in jedem Fall ausüben.
Warum das so ist und wie sich das ändern lässt, darüber konnten wir uns mit Barbara Fontana-Lana, Lehr- und Forschungsbeauftragte am Departement für Sonder- und Heilpädagogik der Universität Fribourg unterhalten. Sie ist Expertin zu Fragen der Selbstbestimmung und führt Schulungen zu politischen Partizipation durch.
«Demokratische Mitwirkung ist ein hohes Gut.»
Frau Fontana-Lana, Sie bezeichnen die «demokratische Mitwirkung» als elementar. Wie definieren Sie demokratische Mitwirkung und warum ist sie für den Aufbau von Personalvertretungen derart wichtig?
Demokratische Mitwirkung bedeutet, eine Stimme zu haben. Oder anders ausgedrückt: Zu einem Thema seine persönliche Meinung einzubringen, eine Person zu wählen oder sich selbst für eine Wahl aufstellen lassen.
Mitwirkung spielt sich in verschiedenen Settings ab. Es kann sich um öffentliche Wahlen oder Abstimmungen auf Bundes-, Kantons- oder Gemeindeebene handeln. Mitwirkung ist aber auch im «privaten Rahmen» möglich, so zum Beispiel bei der Wahl der Mitglieder einer Personalkommission in einem Betrieb oder der Wahl des Vorstands einer Organisation. Demokratische Mitwirkung spielt sich auch im Freundeskreis ab, beispielsweise bei der gemeinsamen Bestimmung der kommenden Feriendestination.
Demokratische Mitwirkung ist ein hohes Gut. Auf der einen Seite erlaubt bzw. fordert es Menschen geradezu auf, ihre Meinung zu äussern. Auf der anderen Seite verpflichtet es die Gesellschaft, sich diese Meinung anzuhören und für den Meinungsbildungsprozess zu berücksichtigen.
«Die Hindernisse bei politischer Teilhabe sind für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen in der Schweiz nach wie vor hoch.»
In Ihren wissenschaftlichen Publikationen weisen Sie darauf hin, dass Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen weniger Möglichkeiten haben, ihr Recht auf demokratische Mitwirkung auszuüben.
Tatsächlich ist dieses Rechts für Personen mit kognitiven Beeinträchtigungen oder Lernschwierigkeiten nicht zwingend anerkannt. In Bezug auf die demokratische Mitwirkung liegt für diese Personen nach wie vor eine Diskriminierung vor.
Zunehmend verlangt auch diese Bevölkerungsgruppe lautstark, ihre Meinung äussern zu können. Die Bewegung der Selbstvertreter und Selbstvertreterinnen ruft uns die mangelnde Anerkennung des gleichen Rechts mit ihrem berühmten Slogan «Nichts über uns ohne uns» immer wieder in Erinnerung.
Der Schattenbericht von Inclusion Handicap aus dem Jahr 2017 über die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in der Schweiz machte deutlich: Die Hindernisse bei politischer Teilhabe und der freien Meinungsäusserung sind für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen in der Schweiz nach wie vor hoch.
In den Kommentaren aus dem Schattenbericht zu den Artikeln 12 und 21 der UN-BRK kommt dies stark zum Ausdruck. Der erste Artikel bezieht sich auf die Anerkennung der Rechtsfähigkeit der einzelnen Person, im zweiten geht es um das Recht auf freie Meinungsäusserung, Meinungsfreiheit und den Zugang zu Informationen.
«Die Konsequenzen einer indirekte Diskriminierung lassen sich oft nicht auf den ersten Blick erkennen und damit beseitigen.»
Wo zeigen sich diese Hindernisse bei der Ausübung der demokratischen Mitwirkung?
Es handelt sich meistens um eine indirekte Diskriminierung. Im Gegensatz zur direkten Diskriminierung, bei der eine Person im Vergleich zu einer anderen eindeutig schlechter behandelt wird, wirkt die indirekte Diskriminierung immanent: Es bestehen zwar bestimmte Rechte, doch die betroffene Person kann diese nicht nutzen.
Die Auswirkungen für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigungen oder Lernschwierigkeiten sind nicht zu unterschätzen. Die Konsequenzen einer indirekte Diskriminierung lassen sich oft nicht auf den ersten Blick erkennen und damit beseitigen.
«Das volle Stimm- und Wahlrecht für Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung hat keine Priorität auf der politischen Agenda.»
Können Sie uns Beispiele für indirekte Diskriminierung nennen?
«Menschen mit Behinderung benötigen wie alle anderen Menschen auch Schulung, um Mitwirkung erst lernen zu können.»
Wie lassen sich diese Hürden überwinden?
Ein gleichberechtigter Zugang zu Bildung ist ein wichtiger Faktor, um gegen diese Hindernisse anzukämpfen.
Menschen mit Behinderung benötigen wie alle anderen Menschen auch Schulung, um Mitwirkung erst lernen zu können. Niemand wird mit der Fähigkeit geboren, seine Meinung explizit äussern, wählen oder eine Gemeinschaft vertreten zu können. Alle müssen diese anspruchsvollen und komplexen Aufgaben zuerst lernen.
Nur die Gelegenheit zu geben, an einer Abstimmung oder Wahl teilzunehmen, reicht aber nicht aus, um sicherzustellen, dass eine echte Mitwirkung stattfindet.
Es braucht vielmehr eine Kultur der Mitwirkung. Das bedeutet:
«Allein, dass jemand sich leichter äussern kann als andere, bedeutet noch nicht, dass sie oder er auch über die besseren Argumente verfügt.»
Im Rahmen einer von INSOS durchgeführten Studie zur Wahl von Personalkommissionen in Unternehmen sind uns zwei Schwierigkeiten aufgefallen. Zum einen, dass Kandidat*innen Mühe haben zu verstehen, was Allgemeininteresse ist. Zum anderen, dass die Personen, die am besten reden können, gewählt werden.
Diese Beispiele belegen einmal mehr, dass effektive Mitwirkung gelernt sein will. Vertreter*innen eines Kollektivs übernehmen Aufgaben und Verantwortung, die erklärt werden müssen. Eine Schulung von Personen, die für das Amt kandidieren wollen, ist unumgänglich.
Es geht darum, eine Mitwirkungskultur zu verankern. Einen Kontext zu schaffen, in dem klar ist, dass Mitwirkung lernbar ist, losgelöst von den aktuell vorhandenen Kompetenzen oder Beeinträchtigungen einer Person.
Für die öffentliche Diskussion oder die Äusserung der eigenen Meinung in einem grösseren Rahmen liefert das Buch «Former la personne avec une déficience intellectuelle à l’autodétermination et à la participation citoyenne» hilfreiche Ansätze, zum Beispiel «Diskussionsregeln», die es ermöglichen, die Diskussion besser zu strukturieren.
Allein, dass jemand sich leichter äussern kann als andere, bedeutet noch nicht, dass sie oder er auch über die besseren Argumente oder Ideen verfügt.
INSOS hat die Broschüre «Step by Step» herausgegeben, die Unternehmen der beruflichen Integration helfen soll, eine Mitwirkung der Arbeitnehmenden zu ermöglichen. Was bringt diese Broschüre Ihrer Meinung nach?
Die Broschüre «Step by Step» ist sehr nützlich, um zu reflektieren, wie Mitwirkung und Abstimmungen oder Wahlen in einem Betrieb der beruflichen Integration funktionieren können. Sie zeigt auf, wie das betriebliche Umfeld. Mitwirkung begünstigen kann. Wichtig auch, welche Stufen durchlaufen werden müssen, um eine effektive Mitwirkung im Unternehmen zu erreichen. Sie gibt Antworten auf die Frage, wie sich Mitwirkung besser umsetzen lässt, und regt dazu an, potenzielle Kandidat*innen für die Personalvertretung zu informieren und ihnen Vertraulichkeit zuzusichern.
«Sich treffen, Erfahrungen austauschen, zusammen reflektieren: Das ist der Weg für eine verstärkte Mitwirkung in Unternehmen.»
INSOS hat auch ein Netzwerk mit dem Namen «Mitwirkung in sozialen Unternehmen» ins Leben gerufen, das Pionier*innen der Mitwirkung aus verschiedenen Bereichen vereint: Arbeitgebende, Vertreter*innen von Arbeitnehmenden mit Behinderung sowie aus Gewerkschaften, von Hochschulen und aus Behindertenorganisationen. Sie haben an einem ersten Treffen teilgenommen. Was war Ihre Motivation?
Ich finde das eine tolle Initiative. Mir gefällt, dass sich im Netzwerk Vertreter*innen verschiedener Bereiche und Branchen zum gleichen Thema, der Mitwirkung in Unternehmen, austauschen können.
Das Netzwerk ermöglicht Kooperation und schafft Synergien. Sich treffen, Erfahrungen austauschen, zusammen reflektieren: Das ist der Weg für eine verstärkte Mitwirkung in Unternehmen.
Diese Art, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, ist kein Selbstläufer. Doch Meinungsverschiedenheiten helfen mit, verschiedene Sichtweisen einzubeziehen und nach einem gemeinsamen Nenner zu suchen. Dies ist ein eigentlicher Lernprozess. Ich kann eine solche Initiative deshalb nur unterstützen.
Barbara Fontana-Lana ist Lehr- und Forschungsbeauftragte beim Departement für Sonder- und Heilpädagogik der Universität Fribourg. Sie ist Expertin zu Fragen der Selbstbestimmung und führt Schulungen zu politischen Partizipation durch.
Barbara Fontana-Lana ist Co-Autorin des Handbuchs «Former la personne avec une déficience intellectuelle à l’autodétermination et à la participation citoyenne» (nur auf Französisch erhältlich).
Das Handbuch zeigt Wege und Möglichkeiten auf, wie Sie Menschen mit Behinderung und Fachpersonen zum Abstimmungs- und Wahlprozess schulen können. Die am Prozess beteiligten Personen erlernen dabei Strategien, um zu entscheiden, wen sie wählen oder wofür sie stimmen wollen. Das Handbuch zeigt auf, wie Abstimmungen und Wahlen ablaufen. Und stellt Hilfsmittel zur Verfügung, um den Prozess gestalten zu können
Sie finden im Handbuch konkrete Informationen,
Barbara Fontana-Lana schlägt Ihnen folgende Hilfsmittel vor, um Erwachsene mit kognitiver Beeinträchtigung oder Lernschwierigkeiten im Abstimmungs- und Wahlprozess zu schulen:
Und sie empfiehlt Ihnen die folgende Literatur (nur auf Französisch erhältlich):
2019 hat INSOS Schweiz in 17 Unternehmen der beruflichen Integration («Werkstätten») Interviews mit Arbeitnehmenden, Arbeitgebenden sowie Assistenzpersonen zum Thema Mitwirkung geführt. Daraus ist im Sommer 2020 die Broschüre «Step by Step – In 10 Schritten zur Arbeitnehmendenvertretung» entstanden. Die Broschüre erklärt Mitwirkung, unterstützt die Gründung von Arbeitnehmendenvertretungen und hilft, die Qualität von Mitwirkung zu überprüfen. In der Blogreihe «Fokus Mitwirkung» ergänzen Beiträge aus der Praxis und Wissenschaft Inhalte der Broschüre. Sie dienen der Inspiration und veranschaulichen Aktuelles zum Thema Mitwirkung.
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