«Das Ausmass einer Krise hängt weniger vom Ereignis selbst ab, sondern vielmehr davon, wie gut eine Institution die Krise in der ersten Phase bewältigen kann.» Das sagt Michael Freudiger, Notfallpsychologe und Geschäftsführer von KrisenKompetenz aus Winterthur.
4 Faktoren entscheiden laut Freudiger über eine «gute Krisenbewältigung»:
Eine Frage stellen sich viele Organisationen laut Michael Freudiger viel zu selten. Nämlich: «Was fehlt uns, damit wir wirklich für eine Krise bereit sind?» Am einfachsten lassen sich die wichtigsten Prozesse, Massnahmen und Checklisten in einem übersichtlichen Krisenkonzept klären. Mindestens folgende Punkte sollten Institutionen für Menschen mit Behinderung in ihr Krisenkonzept aufnehmen:
In der Krise ist oft unklar, wer den Lead hat. Ist es die Institutionsleiterin? Oder der betroffene Gruppenleiter? «Krisen verlangen nach einer hierarchischen Führung», betont Freudiger. Zudem: «Führung kann nicht aufgeteilt werden.» Deshalb hat in der Krise immer nur eine einzige Person den Lead. Darüber müssen alle Mitarbeitenden informiert sein.
Zu klären: Wer übernimmt in der Krise die Führung und wer die Stellvertretung? Jede Person muss ersetzbar sein.
Oft wird die Institutionsleitung nicht oder zu spät über eine Krise informiert. Das kann fatal sein. Klärung schafft beispielsweise das Instrument «Krisenhierarchie». Es listet systematisch die wahrscheinlichsten und gravierendsten krisenhaften Ereignisse auf, ordnet sie Eskalationsstufen zu und definiert, wer über die jeweiligen Ereignisse informiert werden muss. Drohungen gegen Mitarbeitende beispielsweise sind laut Freudiger immer Drohungen gegen die Institution, weshalb dabei immer die Führung involviert werden muss. Eine Klärung der Krisenhierarchie kann Mitarbeitende entlasten, weil sie wissen: «Ich bin nicht für alles verantwortlich.»
Zu klären: Wie können Sie verbindlich festhalten, welche Hierarchiestufe bei welchem Ereignis zwingend informiert werden muss?
Oft ist ein Krisenstab zwar definiert, aber nicht durchdacht oder zu gross. Krisenstäbe müssen laut Freudiger klein und schlagkräftig sein und ein schnelles Handeln ermöglichen. Ein zusätzlicher erweiterter Krisenstab (z.B. mit der Stiftungsratspräsidentin) ist möglich und kann bei Bedarf einberufen werden.
Zu klären: Wer gehört dem Krisenstab an? Wer gehört dem erweiterten Krisenstab an?
Oft ist die Alarmierung nicht bis zu Ende gedacht. Eine Hürde kann sein, dass beispielsweise nur die Sekretärin das Passwort für die Adressdatenbank hat und nicht erreichbar ist.
Zu klären: Wie läuft die Alarmierung genau ab? Wo finden die Mitarbeitenden rasch die wichtigsten Notfallnummern (mögliche Tools: Handy-App, Karte mit Nummern im Portemonnaie)? Wie kann der Zugriff auf die Adressdatenbank und damit die Kommunikation mit den verschiedenen Zielgruppen sichergestellt werden?
Oft haben Schulungen zur Krisenbereitschaft eine geringere Priorität als andere Schulungen – und werden deshalb gestrichen. Laut Freudiger braucht es in jeder Institution eine verantwortliche Person, die entscheidet, welche Schulungsbedürfnisse der Teams aufgenommen werden.
Zu klären: Welche Themen sollen wann geschult werden (Jahresplanung)? Wie schulen Sie den Krisenstab und die Teams? Wie lassen sich GoodPractice-Beispiele in den Teams teilen? Und wie schulen oder sensibilisieren Sie die Mitarbeitenden, die Lager, Ferien und Ausflüge begleiten?
Oft verfügen Institutionen zwar über ein Krisenkonzept, aktualisieren es jedoch nicht. Das kann zur Folge haben, dass Checklisten, Notfallnummern etc. veraltet sind – und schon verläuft die Krisenbewältigung nicht mehr reibungslos.
Zu klären: Wer hält das Krisenkonzept à jour? Und wer führt neue Mitarbeitende ins Krisenkonzept ein?
Die meisten sozialen Institutionen werden im Alltag partizipativ geführt. «In der Krise jedoch ist eine starke hierarchische Führung, wie man sie etwa aus dem Militär oder der Feuerwehr kennt, besser geeignet», so Freudiger. Für Institutionsleitungen bedeutet dies: umdenken und top-down führen. «Darin haben viele Leitungen keine Übung», so Freudiger. Hier gelte es deshalb zu prüfen, ob die Institutionsleitung ein entsprechendes Coaching benötige.
In der Kommunikation ist es wichtig, verschiedene Stufen der Eskalation (Schweregrad der Krise) zu definieren und zu klären, welche Bezugsgruppe auf welcher Stufe und in welcher Reihenfolge informiert wird. «Betroffene werden vor Nichtbetroffenen und interne Personen vor externen Personen informiert. Zudem gilt es, dort proaktiv zu kommunizieren, wo Gerüchte kursieren», sagt Freudiger.
Mit Care ist die psychosoziale Unterstützung von Betroffenen während und nach einer Krise gemeint. Das Ziel von Care ist es, dass alle Betroffenen aus der Ohnmacht ins Handeln kommen.
Michael Freudiger ist Notfallpsychologe und Geschäftsführer von KrisenKompetenz in Winterthur. Sein bietet professionellen Support für Schulen, soziale Institutionen und Unternehmen sowie für Mitarbeitende und Führungsverantwortliche in psychosozialen Krisensituationen.
www.krisenkompetenz.ch
Dieser Artikel stammt aus dem Dossier «Krisenbewältigung»
im INSOS-Magazin Nr. 60 (Mai 2020)
Guten Tag Ich bin der Meinung, dass man in Krisen viel zu schnell, wie hier beschrieben, in die alte und vermeintlich "sichere" Muster verfällt. Auch in einer Krise kann man ohne Probleme weiterhin Bottom - up arbeiten. Der Krisenstab sollte auch nicht von hierarchisch wichtigen Personen besetzt sein, sondern von denjenigen, die meiste Expertise für nötige Herausforderung besitzen. Das gerade in Krisenzeiten alles "Chefsache" sein soll, zeigt aus meiner Sicht eine Unterschätzung vom Gesamtpersonal auf. Freundliche Grüsse