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KRISEN BEWÄLTIGEN | Die 4 wichtigsten Faktoren

19. Mai 2020 / Barbara Lauber
Krisen verlangen nach schnellen Entscheidungen und klarer Kommunikation – selbst wenn zu Beginn der Überblick völlig fehlt. Wie gelingt es, Krisen klug zu meistern? Michael Freudiger, Notfallpsychologe und Geschäftsführer von KrisenKompetenz, erklärt, welche 4 Faktoren für eine gute Bewältigung entscheidend sind.

Einleitung


«Das Ausmass einer Krise hängt weniger vom Ereignis selbst ab, sondern vielmehr davon, wie gut eine Institution die Krise in der ersten Phase bewältigen kann.» Das sagt Michael Freudiger, Notfallpsychologe und Geschäftsführer von KrisenKompetenz aus Winterthur.


4 Faktoren entscheiden laut Freudiger über eine «gute Krisenbewältigung»:

  1. Krisenbereitschaft
  2. Krisenmanagement und Führung
  3. Kommunikation
  4. Care (Unterstützung der Betroffenen)

 

 

1. Krisenbereitschaft


Eine Frage stellen sich viele Organisationen laut Michael Freudiger viel zu selten. Nämlich: «Was fehlt uns, damit wir wirklich für eine Krise bereit sind?» Am einfachsten lassen sich die wichtigsten Prozesse, Massnahmen und Checklisten in einem übersichtlichen Krisenkonzept klären. Mindestens folgende Punkte sollten Institutionen für Menschen mit Behinderung in ihr Krisenkonzept aufnehmen:

1. Führung der Krise

In der Krise ist oft unklar, wer den Lead hat. Ist es die Institutionsleiterin? Oder der betroffene Gruppenleiter? «Krisen verlangen nach einer hierarchischen Führung», betont Freudiger. Zudem: «Führung kann nicht aufgeteilt werden.» Deshalb hat in der Krise immer nur eine einzige Person den Lead. Darüber müssen alle Mitarbeitenden informiert sein.

Zu klären: Wer übernimmt in der Krise die Führung und wer die Stellvertretung? Jede Person muss ersetzbar sein.

2. Informationspflicht

Oft wird die Institutionsleitung nicht oder zu spät über eine Krise informiert. Das kann fatal sein. Klärung schafft beispielsweise das Instrument «Krisenhierarchie». Es listet systematisch die wahrscheinlichsten und gravierendsten krisenhaften Ereignisse auf, ordnet sie Eskalationsstufen zu und definiert, wer über die jeweiligen Ereignisse informiert werden muss. Drohungen gegen Mitarbeitende beispielsweise sind laut Freudiger immer Drohungen gegen die Institution, weshalb dabei immer die Führung involviert werden muss. Eine Klärung der Krisenhierarchie kann Mitarbeitende entlasten, weil sie wissen: «Ich bin nicht für alles verantwortlich.»

Zu klären: Wie können Sie verbindlich festhalten, welche Hierarchiestufe bei welchem Ereignis zwingend informiert werden muss?

3. Krisenstab

Oft ist ein Krisenstab zwar definiert, aber nicht durchdacht oder zu gross. Krisenstäbe müssen laut Freudiger klein und schlagkräftig sein und ein schnelles Handeln ermöglichen. Ein zusätzlicher erweiterter Krisenstab (z.B. mit der Stiftungsratspräsidentin) ist möglich und kann bei Bedarf einberufen werden.

Zu klären: Wer gehört dem Krisenstab an? Wer gehört dem erweiterten Krisenstab an?

4. Alarmierung

Oft ist die Alarmierung nicht bis zu Ende gedacht. Eine Hürde kann sein, dass beispielsweise nur die Sekretärin das Passwort für die Adressdatenbank hat und nicht erreichbar ist.

Zu klären: Wie läuft die Alarmierung genau ab? Wo finden die Mitarbeitenden rasch die wichtigsten Notfallnummern (mögliche Tools: Handy-App, Karte mit Nummern im Portemonnaie)? Wie kann der Zugriff auf die Adressdatenbank und damit die Kommunikation mit den verschiedenen Zielgruppen sichergestellt werden?

5. Schulung

Oft haben Schulungen zur Krisenbereitschaft eine geringere Priorität als andere Schulungen – und werden deshalb gestrichen. Laut Freudiger braucht es in jeder Institution eine verantwortliche Person, die entscheidet, welche Schulungsbedürfnisse der Teams aufgenommen werden.

Zu klären: Welche Themen sollen wann geschult werden (Jahresplanung)? Wie schulen Sie den Krisenstab und die Teams? Wie lassen sich GoodPractice-Beispiele in den Teams teilen? Und wie schulen oder sensibilisieren Sie die Mitarbeitenden, die Lager, Ferien und Ausflüge begleiten?

6. Verantwortlichkeiten Krisenkonzept

Oft verfügen Institutionen zwar über ein Krisenkonzept, aktualisieren es jedoch nicht. Das kann zur Folge haben, dass Checklisten, Notfallnummern etc. veraltet sind – und schon verläuft die Krisenbewältigung nicht mehr reibungslos.

Zu klären: Wer hält das Krisenkonzept à jour? Und wer führt neue Mitarbeitende ins Krisenkonzept ein?

 

2. Krisenmanagement und Führung


Die meisten sozialen Institutionen werden im Alltag partizipativ geführt. «In der Krise jedoch ist eine starke hierarchische Führung, wie man sie etwa aus dem Militär oder der Feuerwehr kennt, besser geeignet», so Freudiger. Für Institutionsleitungen bedeutet dies: umdenken und top-down führen. «Darin haben viele Leitungen keine Übung», so Freudiger. Hier gelte es deshalb zu prüfen, ob die Institutionsleitung ein entsprechendes Coaching benötige.

Wichtige TO DOs

  • Chaosphase bewältigen: Eine Chaosphase gibt es immer. Ihre Dauer hängt davon ab, wie gut die Krise vor allem zu Beginn bewältigt wird.
  • Agieren: Ziel des Krisenmanagements ist es, vom Reagieren ins Agieren zu kommen und die jeweils nächsten Schritte vorauszusehen.
  • Plan B entwickeln: Am besten ist es, immer vom möglichen Worst Case auszugehen und über einen Plan B zu verfügen.
  • Kompetent auftreten: Je kompetenter die Führung auftritt und je klarer sie kommuniziert, welches ihre nächsten Schritte sind, umso ernster wird sie von anderen Beteiligten wie der Polizei genommen. Wenn sie nicht führt, führt die Polizei.
  • Vieraugenprinzip nutzen: In der Führung ist man oft allein. Es ist deshalb wichtig, eine Sparringpartnerin zu haben, die kritische Fragen stellt und das Handeln der Führung hinterfragt. Entscheiden muss dann die Führung selber – selbst wenn sie noch nicht alles weiss. Achtung: Nicht entscheiden ist auch eine Entscheidung!
  • Priorisieren und portionieren: In der Krise gilt es, die eigene Hyperaktivität in den Griff zu bekommen. Es ist wichtig, sich immer wieder zu fragen: Was muss jetzt gerade gemacht werden – und was hat noch Zeit? Priorisieren und portionieren schaffen Raum.
  • Unterstützung prüfen: Wenn die Führung sich überfordert fühlt, kann es Sinn machen, bei Profis Unterstützung zu holen. «Je früher dies geschieht, desto weniger Unterstützung braucht es», so Freudiger.
 

3. Kommunikation

 

In der Kommunikation ist es wichtig, verschiedene Stufen der Eskalation (Schweregrad der Krise) zu definieren und zu klären, welche Bezugsgruppe auf welcher Stufe und in welcher Reihenfolge informiert wird. «Betroffene werden vor Nichtbetroffenen und interne Personen vor externen Personen informiert. Zudem gilt es, dort proaktiv zu kommunizieren, wo Gerüchte kursieren», sagt Freudiger.

Wichtige TO DOs

  • Kommunikation steuern: Mit Klient*innen wird verbindlich abgemacht, dass zum Vorfall nichts gepostet wird. Zudem soll allen klar sein: Mitarbeitende dürfen keine Interviews geben.
  • Aktiv kommunizieren: Mit der Polizei, Angehörigen etc. gilt es, Kommunikationskanäle zu öffnen und aktiv zu bespielen. Wichtig: Informationen verifizieren und keine Gerüchte verbreiten.
  • Kommunikationsbedürfnis feststellen: Es gilt zu prüfen, wer wann welche Informationen braucht. Freudiger: «Wer am lautesten ruft, braucht nicht zwingend als erstes Infos.» Die Bezugsgruppen gilt es dann zu priorisieren. Wichtig ist, dass keine vergessen wird.
  • Angehörige einbeziehen: Wer früh mit Betroffenen und Angehörigen klärt, wie kommuniziert werden kann (z.B. «sprechen wir von Suizid?»), kann viel Vertrauen aufbauen und Widersprüche verhindern. Freudiger: «Fehler, die hier gemacht werden, kann man später nicht mehr rückgängig machen.»
  • Kritiker anhören: Wenn es z.B. sehr kritische Angehörige anderer Klient*innen gibt, werden diese idealerweise von Anfang an miteinbezogen, ernst genommen und angehört. Damit verhindern Sie, dass sie ihrem Ärger z.B. in den Medien Luft machen.
  • Vorbereitet sein auf Medienanfragen: Sobald ein Vorfall von einem Medium aufgegriffen wird, muss eine Institution zügig mit einer Medienmitteilung reagieren können. Selbst dann, wenn noch nicht alle Fakten klar sind. Freudiger: «Mauern und nicht kommunizieren ist fatal.» Damit Sie auf eine Medienanfrage gut vorbereitet sind, müssen Sie die Medienmitteilung und Antworten auf die unangenehmsten Fragen («Questions & Answers») schon vor der ersten Medienanfrage erarbeiten.
 

4. Care


Mit Care ist die psychosoziale Unterstützung von Betroffenen während und nach einer Krise gemeint. Das Ziel von Care ist es, dass alle Betroffenen aus der Ohnmacht ins Handeln kommen.

Wichtige Leitfragen

  • Wer ist besonders vulnerabel? Und wer unterstützt diese Personengruppen? Care muss geführt werden: Auch hier gilt es, Prioritäten zu setzen und zu entscheiden, welche Bezugsgruppen unterstützt werden. Wichtig: Auch einzelne Mitarbeitende können Unterstützung benötigen.
  • Was brauchen die internen Bezugspersonen? Es gilt, diese (evtl. durch Profis) dazu zu befähigen, die Klient*innen selber zu betreuen. Weshalb? Klient*innen erleben diese in der Krise als kompetent. Zudem sind sie nach der Krise weiterhin da.
  • Wo erhalten Sie zusätzliche Unterstützung? Welche Mitarbeitenden, die frei haben, können Sie für Unterstützung anfragen? Brauchen Sie externe Ressourcen wie ein CareTeam?
  • Wie gelingt es, trotz allem möglichst den Alltag zu leben, Normalität zu pflegen und durch gewohnte Strukturen und Abläufe Sicherheit zu geben? Wie können Klient*innen sich dabei gegenseitig unterstützen?
  • Was können Klient*innen zur Bewältigung beitragen? Sind z.B. Abschieds- oder Abschlussrituale möglich? Was Betroffene selber machen können und wollen, sollen sie selber machen – zu viel Hilfe kann ohnmächtig machen.
  • Wie können Fachpersonen die Krise abschliessen? Eine psychologische Krise braucht einen Abschluss. Das ist auch für Fachpersonen wichtig. Wo lässt sich Raum schaffen, um sich auszutauschen, offene Fragen zu beantworten, Feedback zu geben und Lehren aus der Krise zu ziehen? Bei diesem Abschluss soll alles Platz haben, auch alle Emotionen. Freudiger: «Danach kann man unbelasteter zurück in einen neuen Alltag finden.»
 

Unser Gesprächspartner

 

Michael Freudiger ist Notfallpsychologe und Geschäftsführer von KrisenKompetenz in Winterthur. Sein bietet professionellen Support für Schulen, soziale Institutionen und Unternehmen sowie für Mitarbeitende und Führungsverantwortliche in psychosozialen Krisensituationen.
www.krisenkompetenz.ch

Dieser Artikel stammt aus dem Dossier «Krisenbewältigung»
im INSOS-Magazin Nr. 60 (Mai 2020)

Kommentare

  • Von M.Minder / 20. Mai 2020

    Guten Tag Ich bin der Meinung, dass man in Krisen viel zu schnell, wie hier beschrieben, in die alte und vermeintlich "sichere" Muster verfällt. Auch in einer Krise kann man ohne Probleme weiterhin Bottom - up arbeiten. Der Krisenstab sollte auch nicht von hierarchisch wichtigen Personen besetzt sein, sondern von denjenigen, die meiste Expertise für nötige Herausforderung besitzen. Das gerade in Krisenzeiten alles "Chefsache" sein soll, zeigt aus meiner Sicht eine Unterschätzung vom Gesamtpersonal auf. Freundliche Grüsse

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