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«Bei Arbeitgebenden das Bewusstsein für inklusive Arbeitsfelder wecken.»

26. Juli 2022 / Annina Studer
Menschen mit Behinderung haben es in der Schweiz schwer auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eine Stelle zu finden. Das hat der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung kritisiert. Damit sich das ändert, müssen konkrete, praxisnahe Angebote geschaffen werden. Davon ist Brian McGowan, Vorstandsmitglied bei Sensability und Experte in eigener Sache, überzeugt. Im Interview erklärt er, was Inklusion (noch) verhindert und wie sie trotzdem gelingen kann. Dabei können auch die Praxisseminare von Sensability helfen.

Der UN-BRK Ausschuss kritisiert, dass es in der Schweiz kaum inklusive Arbeitsfelder gibt. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie diese Kritik lasen?

Dies war für mich nicht überraschend. Man muss wissen, dass der abschliessende Bericht des UN-BRK Ausschusses eine Zusammenfassung der Anhörungen ist. Ich war bei den Anhörungen der Zivilgesellschaft und der offiziellen Schweiz anwesend und konnte die verschiedenen Kritikpunkte mitverfolgen. Der Ausschuss kritisierte deutlich, dass die Schweiz in Inklusionsfragen ungeübt ist – auch im Bereich der Arbeit. Zwar verfügt die Schweiz über eine gut ausgebaute Einzelfallhilfe, doch diese soll nur den behinderungsspezifischen Nachteil der betreffenden Person ausgleichen. Das Arbeitsumfeld wurde in der Schweiz bisher kaum beachtet.
Und das ist der Hauptkritikpunkt des UN-BRK-Ausschusses: In der Schweiz dominiert die medizinische Sicht auf Behinderung. Das menschenrechtliche Modell, das Behinderung als Wechselwirkung zwischen Umweltfaktoren und individuellen Einschränkungen begreift, ist in der Schweiz kaum angekommen, geschweige denn gesellschaftspolitisch umgesetzt. Das hat zur Folge, dass in der Schweiz nationale oder kantonale Strategien für die Schaffung einer inklusiveren Arbeitswelt fehlen.

Was versprechen Sie sich von den Empfehlungen des UN-BRK-Ausschusses?

Ich erhoffe mir, dass Regierung, Behörden, Politiker:innen, Wirtschaftsvertreter:innen, Arbeitgeber:innen und die Zivilgesellschaft diese Kritik ernst nehmen und aktiv werden. Leider hat die öffentliche Schweiz bisher kaum auf den UN-BRK-Bericht reagiert. Ich stelle eine grosse Diskrepanz zwischen dem, was der UN-BRK-Ausschuss sagt, und der Selbstwahrnehmung der Schweiz fest.

«Arbeitgebende müssen von dem Know-How und den Kompetenzen von Menschen mit Behinderung überzeugt sein.»

Warum sind wir in der Schweiz noch so weit von einem inklusiven Arbeitsumfeld entfernt?

Das hat einerseits mit der Tradition der Einzelfallhilfe zu tun. Diese ist im Vergleich zu anderen Ländern sehr gut ausgebaut. Gerade deswegen besteht aber die Gefahr, auf struktureller Ebene keine Notwendigkeit für die Erschaffung von inklusiven Arbeitsfeldern zu sehen. Aber wir brauchen neben individuellen Massnahmen unbedingt auch strukturelle. Der Ausschuss spricht sich deswegen für eine duale Strategie aus. Doch diese Erkenntnis ist noch zu wenig in der Schweiz verankert. So gibt es zwar sehr viele professionelle Sonderangebote im Bildungs- und Arbeitsbereich. Doch diese tragen dazu bei, dass die zahlreichen Hindernisse auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht in den Fokus rücken. Die wirtschafts- und bildungsverantwortlichen Instanzen müssen sich nicht mit diesem Thema auseinandersetzen, denn es gibt ja dafür spezialisierte Dienstleister.

Doch man kann auch einen positiven Wandel beobachten: Es gibt immer mehr Bildungsangebote, mit denen sich Menschen mit Behinderung für den allgemeinen Arbeitsmarkt qualifizieren können.

Was ist, Ihrer Meinung nach, nötig, damit Arbeitgebende Menschen mit Behinderung aus Überzeugung anstellen?

Arbeitgebende müssen von dem Know-How und den Kompetenzen von Menschen mit Behinderung überzeugt sein. Und sie müssen wissen, wie sie die Fähigkeiten dieser Menschen in ihrem Unternehmen einbinden und nutzen können. Diese Arbeitgebenden haben früher häufig Erfahrungen mit Menschen mit Behinderung gesammelt, zum Beispiel während einer projektbezogenen Zusammenarbeit. Dabei konnten sie die Qualifikationen, Expertisen und Fähigkeiten der Mitarbeitenden mit Behinderung erkennen.

Deswegen scheint mir wichtig, dass Arbeitgebende Arbeitserfahrungen mit Menschen mit Behinderung sammeln. Nur so können sie das grosse Potential von Menschen mit Behinderung erkennen. Aber damit diese ihre Arbeitsleistung voll entfalten können, müssen die Rahmenbedingungen stimmen. Es ist ein Perspektivenwechsel nötig: Nicht nur das Individuum muss für das Arbeitsumfeld fit gemacht werden, sondern auch das Arbeitsumfeld für Individuen mit Behinderung.

«Es braucht auf der Führungsebene ein Bewusstsein für die fachliche und menschliche Bereicherung des Teams durch Mitarbeitende mit Behinderung. Entscheidend ist, dass auf Führungsebene die Überzeugung herrscht: Diversity und Inklusion bringt allen was.»

In vielen grösseren Unternehmen gibt es bereits eine Diversity-Strategie. Kann man da andocken?

Ja. Aber leider fehlt in den meisten Konzepten der Aspekt der Behinderung. Damit sich das ändert, braucht es auf der Führungsebene ein Bewusstsein für die fachliche und menschliche Bereicherung des Teams durch Mitarbeitende mit Behinderung. Entscheidend ist, dass auf Führungsebene die Überzeugung herrscht: Diversity und Inklusion bringt allen was.


Darum bietet Sensability gemeinsam mit den Partnerorganisationen id-GEO und Impulse Praxisseminare für Unternehmen an, die inklusiv werden wollen.

Genau. Wir wollen bei Arbeitgebenden das Bewusstsein wecken, Arbeitsumfelder in ihrem Betrieb inklusiver zu gestalten. Deswegen konzentrieren wir uns in unseren Praxisseminaren auf die zentralen Themenfelder «hindernisfreie Arbeitsplätze», «inklusive Führung», «inklusives Personalmanagement» und «inklusive Betriebskultur». Die Seminare sind modular aufgebaut. Das heisst, sie können individuell zusammengestellt werden.


ARTISET vereint Dienstleister für Menschen mit Behinderung, für Menschen im Alter und für Kinder und Jugendliche. Für welche dieser Organisationen eignen sich die Praxisseminare?

Für alle.

«Unsere Praxisseminare bieten hier konkrete Lösungsansätze, um inklusive Arbeitsumfelder im eigenen Betrieb zu schaffen.»

Warum?

Meiner Meinung nach sind Arbeitgebende im Sozial- und Gesundheitswesen besonders sensibel, wenn es um Grundrechte und Inklusion von vulnerablen Personengruppen geht. Es gibt aber kaum inklusive Arbeitsbedingungen. Unsere Praxisseminare bieten hier konkrete Lösungsansätze, um inklusive Arbeitsumfelder im eigenen Betrieb zu schaffen. Arbeitgebende werden dazu befähigt, die richtigen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Inklusion zu schaffen. Unsere Praxisseminare sind von Menschen mit Behinderung entwickelt und werden von Menschen mit Behinderung durchgeführt. So fliessen ihre persönlichen Erfahrungen in den Kurs ein.

Menschen mit Behinderung können im Sozial- und Gesundheitsbereich in unterschiedlichen Fachbereichen und Positionen arbeiten. Zum Beispiel in der Begleitung und Pflege von Menschen, in der Administration, am Empfang, in der Buchhaltung, in der Küche. Sie können als Fachkräfte, aber auch auf Management- und Leitungsebene tätig sein. Wie hoch schätzten Sie in diesen Bereichen den inklusiven Handlungsbedarf ein?

Hoch! Viele Organisationen, auch jene im Behindertenbereich, sind in der Regel durch Menschen ohne Behinderung geprägt. Das wirkt sich auf alle betrieblichen Bereiche aus, seien es Arbeitsabläufe, Arbeitsbedingungen, Stellenprofile oder Managementmodelle. Wenn man hier inklusive Strukturen errichten will, die sich an den Bedürfnissen aller Arbeitnehmenden orientieren, ist auch im Sozial- und Gesundheitsbereich noch viel zu tun! Es geht immer wieder um die Grundsatzfrage, ob Inklusion auf Augenhöhe stattfindet und was das für die Weiterentwicklung des Unternehmens bedeutet. Unsere Praxisseminare bieten hier Anregungen.

 

Unser Gesprächspartner

Unser Gesprächspartner

Brian McGowan ist Historiker, Diversity-Beauftragter an der ZHAW und Dozent für Inklusion, BRK und Diversity an diversen Hochschulen. Ausserdem ist McGowan Mitbegründer des Schweizerischen Netzwerkes Disability Studies und Co-Präsident und Projektleiter bei Sensability. Er leitete die erste kommunale Fachstelle für Gleichstellung von Menschen mit Behinderung in Bern. Brian McGowan lebt seit Geburt mit einer Mobilitätsbehinderung.

 

Sensability und ihr Angebot

 

Sensability

Sensability bietet Beratungsdienstleistungen von Menschen mit Behinderung für Menschen ohne Behinderung an. Das Unternehmen ist spezialisiert auf Projekt- und Geschäftsentwicklung und berät, schult und sensibilisiert rund um das Thema «Inklusion von Menschen mit Behinderung». Die Mitarbeitenden von Sensability verfügen über langjährige Erfahrungen im Bereich der Behindertenrechtskonvention.

Zur Sensability-Website

 

Ihre Praxisseminare

Sensability bietet folgende Praxisseminare zum Thema «Inklusiver Arbeitsmarkt» an:

  • Praxisseminare für hindernisfreie Arbeitsplätze
  • Praxisseminare für eine inklusive Führung
  • Praxisseminare für ein inklusives Personalmanagement
  • Praxisseminare für eine inklusive Betriebskultur

Die Kurse richten sich an Arbeitgeber:innen und sind modular aufgebaut. Ein Modul dauert einen halben Tag und ist für max. 20 Teilnehmende ausgelegt. Zusätzlich können Sie ein Selbsterfahrungsmodul buchen. Hier erleben Sie Hindernisse im Arbeitsumfeld hautnah und persönlich.

Erfahren Sie mehr über die Praxisseminare auf der Website von Sensability.

Zu Praxisseminare Angebot

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