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De-Institutionalisierung | Drei Ansichten

11. Dezember 2021 / M. Leiser, P. Saxenhofer, C. Rumo
Was bedeutet der Trend zur De-Institutionalisierung für die sozialen Institutionen und die Pflegeheime? Verbandsvertretende der Bereiche Menschen mit Behinderung, Menschen im Alter sowie Kinder und Jugendliche zeigen auf, wohin die Reise aus ihrer Sicht gehen muss.

«Die De-Institutionalisierung schreitet voran – und das ist gut so.»

Markus Leser CURAVIVA

Markus Leser, zukünftiger Geschäftsführer CURAVIVA, Bereich Menschen im Alter

Blicken wir kurz zurück. In den 1960er Jahren gab es eine Fülle von Studien aus dem Gebiet der ökologischen Gerontologie. Sie beschreibt ein interdisziplinäres Verständnis zwischen den Wechselbeziehungen von Menschen und Umgebung und meint vor allem, dass Alter und Altern immer in «Umwelten» geschieht, und diese beziehen sich längst nicht nur auf einen architektonisch umbauten Raum. Im Gegenteil, es ist die «Person-Umwelt-Passung» (ein Begriff den Lawton und Kahana in den 1970er Jahren geprägt haben), die eine Voraussetzung für hohe Lebensqualität im Alter ist. Hierbei geht es vor allem um die konsequente Orientierung an den individuellen Bedürfnissen der älteren Menschen und an der Förderung ihrer bestehenden Ressourcen. Können wir von einem Trend sprechen, wenn wir über Themen diskutieren, die wir schon seit rund 60 Jahren kennen?

Als Konsequenz auf diese gerontologischen Grundlagenarbeiten ertönte in den 1970er Jahren der Weckruf «Öffnet die Heime». Konrad Hummel war einer jener Heimleiter, der mit seinem Buch «Wege aus der Zitadelle» diese Öffnung eindrücklich beschrieb. Seither haben sich die Heime und Institutionen der Altershilfe immer wieder gewandelt und den neuesten Entwicklungen angepasst – bis hin zu Quartierzentren, die öffentlichen, halbprivaten und privaten Raum miteinander verbinden.

Die De-Institutionalisierung schreitet voran – und das ist auch gut so. Manchmal frage ich mich, ob das in derschweizerischen Politiklandschaft schon wirklich alle mitbekommen haben. Das heutige KVG ist jedenfalls keingesetzlicher Rahmen, der Individualität und Förderung von Ressourcen auf seine Fahnen geschrieben hat. Der Branchenverband CURAVIVA hat sich der Thematik mit der Entwicklung des Wohn- und Pflegemodells schon seit längerer Zeit angenommen. Derzeit wird eine dritte Version der «Vision Wohnen im Alter» erarbeitet. Die Branche der Heime und Institutionen befindet sich im Altersbereich nicht erst seit Corona in einem Wandel. Dieser Wandel zu flexiblen Wohn- und Betreuungsformen muss gestaltet werden, und dafür wird sich der Branchenverband CURAVIVA einsetzen. Und nicht zuletzt wird er auch selbst seine alte Identität erneuern müssen. Heute sind wir der Verband der Heime und Institutionen, wir werden uns öffnen müssen für flexible und vielfältige Wohn- und Betreuungsformen.

«Das Lösen von gesellschaftlichen Problemen setzt immer voraus, dass wir politisch wie gesellschaftlich die Veränderung des Status quo anstreben», hat Paul Baltes einmal gesagt. Genau das wollen wir.

 

«Viele Institutionen sind aktiv geworden, bevor Forderungen von aussen laut wurden.»

Saxenhofer Peter

Peter Saxenhofer,Geschäftsführer von INSOS, Bereich Menschen mit Behinderung

Der Begriff «De-Institutionalisierung» liegt im Trend. Er findet sich in den Medien, wird gerne in Diskussionen verwendet und steht auch auf der politischen Agenda. Speziell in der Behindertenpolitik poppt «De-Institutionalisierung» immer wieder auf. Eine damit verbundene Erwartungshaltung ist zunehmend spürbar und fordert unsere Mitglieder heraus.

Gleichzeitig sind viele Institutionen aktiv geworden, bevor Forderungen von aussen laut wurden. Sie reflektieren seit Längerem darüber, Angebote zu öffnen, sie flexibler und vielseitiger zu gestalten und Menschen bei der Entscheidungsfindung stärker zu unterstützen und zu begleiten.Sie passen zudem ihr Angebot in den Bereichen Wohnen, Arbeit und bei der Begleitung ganz allgemein an und bauen intern Gruppen von Selbstvertreterinnen und Selbstvertretern auf, die diese Entwicklung weiter vorantreiben. Diese Dynamik beschleunigt den Prozess, so dass wir in zehn Jahren vielleicht nicht mehr von «Institutionen» und «Werkstätten» sprechen, sondern andere Begriffe verwenden, um diese Dienstleistungen wirklichkeitsnah zu beschreiben. Im Zuge dieser Entwicklung ersetzt INSOS Schritt für Schritt den Begriff der «Institution» durch denjenigen der «Dienstleisterin».

Dies ist wichtig, da Worte Denkmuster widerspiegeln und das Wort «Institution» ein historisch überholtes, negatives Bild unserer Branche vermittelt. Ich denke dabei an «Bevormundung», «Abschottung» und «Fremdbestimmung». Dieses alte Bild überdeckt immer noch, was die Institutionen heute leisten: Sie setzen Teilhabe und Selbstbestimmung auf die Agenda

und bieten eine angemessene agogische Begleitung an. Manchmal habe ich den Eindruck, dass die De-Institutionalisierung im Diskurs ausschliesslich auf die Schliessung von Institutionen fokussiert. Dieser Diskurs zu De-Institutionalisierung ist gefährlich. Er stellt die agogische Unterstützungsarbeit grundsätzlich in Frage.

Für INSOS bedeutet De-Institutionalsierung, sich von den negativen Aspekten zu verabschieden, die traditionell mit dem Begriff der Institutionen verbunden sind. Und neue Arten von Dienstleistungen zu etablieren, die gemeinsam  mit Menschen mit Behinderung entwickelt werden.

Wir sind noch nicht am Ziel. Es liegt noch einige Arbeit vor uns. Aber die Branche ist aktiv und auf gutem Weg. Um sie dabei zu unterstützen, haben wir den Aktionsplan UN-BRK erarbeitet. Mit dem Aktionsplan bündeln wir unsere Kräfte,¨um (künftige) Fachpersonen besser auszubilden, das Prinzip der Teilhabe zu verankern, die Kommunikation zu verbessern und das Angebot vielfältiger und durchlässiger zu gestalten.

Um diese Art der «De-Institutionalisierung» erfolgreich umzusetzen, braucht es förderliche Rahmenbedingungen und eine entsprechende Finanzierung. Und dort sehe ich derzeit noch Schwierigkeiten. Deshalb stelle ich folgende Fragen: Ist die Gesellschaft bereit, Menschen mit Behinderung an allen Lebensbereichen uneingeschränkt teilhaben zu lassen? Ist der Arbeitsmarkt bereit, geeignete und anpassungsfähige Arbeitsmöglichkeiten zu bieten? Und ist die Politik bereit, Rahmenbedingungen und Finanzierung flexibler zu gestalten? Wenn dem so ist, können wir gemeinsam eine echte De-Institutionalisierung voranbringen.

 

«Es ist zu prüfen, wie die Angebote flexibilisiert werden können.»

Cornelia Rumo Wettstein YOUVITA

Cornelia Rumo, zukünftige Geschäftsleiterin von YOUVITA, Bereich Kinder und Jugendliche

In den letzten Jahren ist der Ruf nach De-Institutionalisierung – vor allem im Behinderten- und im Altersbereich – lauter geworden. Auch wenn der Begriff als solcher im Kinder- und Jugendbereich nicht verwendet wird, so spielen Bestrebungen, die in Verbindung dazu stehen, auch hier eine Rolle. So ist vielerorts die einseitige Förderung von ambulanten Leistungen ein implizites und manchmal auch explizites Ziel in der Angebotssteuerung. Mit Blick auf die Zielsetzung dieser Förderung und der Setzung der Anreize darf man sich durchaus die Frage nach der Motivation stellen. Steht das individuelle Wohl des Kindes im Zentrum der Überlegungen bei der Wahl eines Unterstützungsangebots, bekommt die Förderung verschiedener Unterstützungsoptionen eine hohe Legitimität. Spielen finanzielle Überlegungen die zentrale Rolle, wird die entsprechende Entscheidung dem Kind und seinem Umfeld nicht gerecht.

Wohngruppen bieten einen förderliche Lebenswelt, wenn Eltern ihre Aufgabe auch mit intensivsten Unterstützungsleistungen nicht wahrnehmen können. Institutionen können Unbehagen auslösen, da sie als Gemeinschaft mit der Unterstellung leben, dass das Individuum nicht im Zentrum steht. Anstatt eine De-Institutionalisierung anzustreben, ist deshalb zu prüfen, wie Angebote der Kinder- und Jugendhilfe so flexibilisiert werden können, so dass sie jedem Kind geben, was es braucht. Um durchlässige Angebote zu ermöglichen, müssen die involvierten Systeme entweder aus einer Hand kommen oder sehr gut koordiniert sein. Die verschiedenen Handlungsfelder müssen bereit sein, professionelles Wissen zu teilen. Das ist leichter gesagt als getan. In der Kinder- und Jugendhilfe gilt es anhand von Indikatoren und Erfahrungswerten herauszufinden, wie im Einzelfall der grösstmögliche Nutzen für die Beteiligten erzielt werden kann. Fokus jeder Unterstützungsleistung sollte die Selbstbefähigung der Beteiligten sein. Welches Setting dafür richtig ist, hängt vom Einzelfall ab und sollte nicht pauschal definiert werden und schon gar nicht über eine andere Systemlogik, wie jene der Finanzierung, gesteuert werden.

Das Bewusstsein dafür, dass es flexiblere und auf die Einzelperson zugeschnitten Lösungen mit Partizipationsmöglichkeiten braucht, ist gestiegen. Einzelne Anbieter von Unterstützungsangeboten haben dies bereits umgesetzt, andere stehen noch am Anfang. Es ist wünschenswert, dass diese wichtigen Entwicklungen durch Politik und Gesetzgebung getragen werden.

Kommentare

  • Von Sollberger Daniela / 16. Dezember 2021

    Es sieht nach Kosteneinsparung zu ungunsten der Institutionen und im Endeffekt zu Ungunsten der Klienten aus.

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