Eine Krise verstehe ich als Situation, in der ein bisheriges Gleichgewicht, ein bisher einigermassen stabiles System ins Wanken gerät oder zusammenbricht. Wir sind mit Ereignissen oder Lebensumständen konfrontiert, für deren Bewältigung uns im Moment selber keine erfolgreichen Strategien zur Verfügung stehen.
Jeder Mensch hat folgende vier Grundbedürfnisse:
In der aktuellen Krise aufgrund des Coronavirus werden eigentlich alle diese Grundbedürfnisse massiv bedroht:
Und wir haben in dieser völlig neuen und uns unbekannten Situation die Orientierung verloren:
Die Auswirkungen einer solchen Krise können sehr unterschiedlich sein:
Wir alle, ob mit oder ohne Beeinträchtigung, verfügen über die gleichen Grundbedürfnisse. Somit betreffen obige Ausführungen auch Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung. Dennoch stellen sich bei Personen mit geistiger Behinderung im Rahmen der aktuellen Coronakrise ganz besondere Herausforderungen.
In erster Linie denke ich dabei an wichtige kognitive Kompetenzen, um eine Situation einordnen und verstehen zu können. Diese Möglichkeiten sind bei Personen mit kognitiver Beeinträchtigung eingeschränkt oder, bei einer stark ausgeprägten geistigen Behinderung, auch nicht vorhanden.
Bereits für Menschen ohne Beeinträchtigung bleibt es ja schwierig, dieses irgendwie abstrakte und unsichtbare Virus in seiner Ganzheit zu erfassen.
Das heisst: Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung nehmen die aktuellen Veränderungen in der Krise wahr, erleben die einschränkenden Massnahmen direkt mit, können dabei deren Ursachen aber nur begrenzt oder auch gar nicht verstehen. Bereits für Menschen ohne Beeinträchtigung bleibt es ja schwierig, dieses irgendwie abstrakte und unsichtbare Virus in seiner Ganzheit zu erfassen.
Oder stellen Sie sich nur einmal die Situation vor, die zurzeit viele Personen mit Beeinträchtigung, die in einer Institution leben, aushalten müssen: Sie dürfen ihre Angehörigen nicht mehr sehen und nicht mehr besuchen, können aber nicht verstehen, warum dies so ist. Das ist ein persönliches Drama!
Es können Gefühle der Frustration, Wut, Ohnmacht, Verunsicherung und Angst entstehen, was sich auch bis zur Panik ausweiten kann.
Der oben beschriebene Kontrollverlust wird durch ein solches «Nichtverstehen» also um ein Vielfaches stärker erlebt.
Eine Möglichkeit, wieder Kontrolle zu erlangen, ist es, eine Situation zu verstehen. Wir sind deshalb aufgefordert, alles daran zu setzen, die aktuelle Krisensituation den Personen mit kognitiver Beeinträchtigung auf eine adäquate und entwicklungsgerechte Art und Weise verständlich zu machen. Dabei ist an Informationen in leichter Sprache, an Bild- und Videomaterial sowie an alle anderen Möglichkeiten zur unterstützten Kommunikation zu denken.
Eine Möglichkeit, wieder Kontrolle zu erlangen, ist es, eine Situation zu verstehen.
Personen mit und Personen ohne kognitive Beeinträchtigung erleben in der aktuellen Krise also ähnliche und gleiche Gefühlszustände.
Als weiterer Punkt zu erwähnen ist, dass für Personen mit geistiger Behinderung der Zugang zu einem konstruktiven Umgang mit der Krise vielfach erschwert ist. So fehlen vielleicht die Möglichkeiten, Beziehungen im Moment durch andere Kanäle weiterhin zu pflegen. Oder im Rahmen von beeinträchtigungsbedingten Abhängigkeiten ist es umso schwieriger, sich bewusst neue Möglichkeiten zu schaffen, in denen wieder vermehrt Kontrolle und Orientierung erlebt werden kann. Oder es bestehen aufgrund der Beeinträchtigung nur begrenzte Möglichkeiten zu neuen Aktivitäten, die Lustgefühle bereiten. Oder der eigene Unterstützungsbedarf verunmöglicht eine Erhöhung des Selbstwerts, indem die Person mit Beeinträchtigung helfend für andere Menschen da sein könnte.
Wir sind aufgefordert, alles daran zu setzen, die aktuelle Krisensituation den Personen mit kognitiver Beeinträchtigung verständlich zu machen.
Aber auch wenn dieser Zugang erschwert ist, so ist er meistens doch nicht gänzlich unmöglich. Gerne betone ich an dieser Stelle deshalb erneut: Wir sind aufgefordert, mit den Personen mit kognitiver Beeinträchtigung zusammen für sie passende Möglichkeiten zu finden, anhand deren sich diese wichtigen Grundbedürfnisse befriedigen lassen. Das würde aus meiner Sicht einer pädagogischen und agogischen Begleitung entsprechen, die ganz generell, aber vor allem auch in der aktuellen Krise unbedingt angezeigt wäre.
Und vielleicht bietet die Krise ja auch die Gelegenheit, uns gerade jetzt auf die zwar manchmal unkonventionellen, aber oftmals überaus kreativen und erfinderisch-konstruktiven Lösungsansätze von Personen mit kognitiver Beeinträchtigung zu besinnen und diese als Ressource mit einzubeziehen. Das fände ich eine sehr schöne Begleiterscheinung der Coronakrise.
Als Psychologin bei insieme Schweiz begleite ich ausschliesslich Personen mit Lernbeeinträchtigung, mit geistiger oder mehrfacher Behinderung sowie ihre Angehörigen, weshalb ich in meinen Ausführungen auch nur auf diese Zielgruppe eingehe. Menschen mit psychischen, körperlichen oder anderweitigen Beeinträchtigungen mögen in der aktuellen Krise wiederum andere beeinträchtigungsspezifische Herausforderungen erleben, auf die ich an dieser Stelle leider nicht auch noch eingehen kann.
Auch die Auswirkungen der aktuellen Krise auf die Bezugspersonen können unterschiedlich sein je nach individuellen Voraussetzungen und Ressourcen.
In den Institutionen müssen viele Fachpersonen nun restriktive Massnahmen umsetzen. Diese Regelungen den Personen mit geistiger Behinderung möglichst verständlich zu erklären, sie dann aber auch bei allfälligem Unverständnis trotzdem durchsetzen zu müssen, kann eine grosse Belastung bedeuten oder gar zu eigenen Versagensgefühlen als Fachperson führen. Auch auf dieser Seite kann also grosse Ohnmacht erlebt werden. Zudem ist das Begleitpersonal nahe an den Personen mit Unterstützungsbedarf dran und bekommt die weiter oben beschriebenen Gefühle (zum Beispiel Wut, Verunsicherung, Angst) und Verhaltensweisen (zum Beispiel Rückzug, aggressive Verhaltensweisen) oft ungefiltert mit.
Nebst agogischen gibt es zurzeit also auch noch viele weitere Weisungen einzuhalten.
Auch müssen die Fachpersonen weiterhin Pflegesituationen mit bisweilen engem Körperkontakt begleiten und dabei möglichst die geltenden Hygienevorschriften einhalten. Nebst agogischen gilt es zurzeit also auch noch viele weitere Weisungen einzuhalten. Im Weiteren ist auch beim Personal Kreativität gefragt, gilt es doch, wegfallende Tagesstrukturen oder bisherige Routinen mit neuen Inhalten zu ersetzen. Hinzu kommen potenzielle oder bereits erfolgte Krankheitsausfälle von Teamkolleginnen und -kollegen oder die Notwendigkeit, selber bei einer anderen Gruppe, in einem anderen Bereich einzuspringen. Das hat wiederum Auswirkungen auf den eigenen Einsatzplan und auf das Privatleben.
Das ist ein enormer Balanceakt und kann zur Zerreissprobe führen.
Dies alles als Betreuungsperson professionell zu begleiten und umzusetzen sowie gleichzeitig der Sorge um die eigene Gesundheit ausgesetzt zu sein – das ist ein enormer Balanceakt und kann zu einer Zerreissprobe werden. Gerade dieser Punkt macht, unter anderen, die Ausserordentlichkeit dieser Coronakrise aus: Im Arbeitsalltag müssen die Mitarbeitenden als professionelle Fachperson anderen Menschen unterstützend zur Verfügung stehen, gleichzeitig sind sie selber im Moment immer auch als Privatperson durch eine mögliche Virusinfektion bedroht (oder drohen selber begleitete Menschen anzustecken). Mit dieser Gleichzeitigkeit umzugehen, ist nicht einfach.
In vielen Einrichtungen leistet das Fachpersonal zurzeit also einen sehr grossen und engagierten Einsatz, was mich sehr beeindruckt.
Gerade zur aktuellen Krisenzeit kann ein Team profitieren, das auch bereits vorher eine achtsame und sorgfältige Teamkultur eingeübt und gepflegt hat: sich gegenseitig unterstützen, gerade auch in der adäquaten Umsetzung von Weisungen, sich gegenseitig wahrnehmen und merken, wenn ein Teamkollege an seine Grenzen kommt oder eine Kollegin Belastungssymptome zeigt. Eine offene Gesprächskultur kann nur unterstützend sein.
Dass alle Fachpersonen dabei Weisungen und Regelungen möglichst einheitlich umsetzen, ist zudem dem Sicherheitsgefühl der Klienten und Klientinnen zuträglich und verhindert zusätzliche Unruhe und Verwirrung.
Auch eine wertschätzende, dabei aber sehr klare Führung ist zurzeit zentral. Die umzusetzenden Regelungen lösen beim Fachpersonal unterschiedliche Reaktionen aus. Bestimmte Handlungsanweisungen stossen bei den einen auf Verständnis und bei den anderen auf Ablehnung. Zudem drohen einige Fachpersonen vielleicht in eine Art «Schockstarre» zu verfallen, während andere in einen übersteigerten Aktivismus hineingeraten. In einer Krise, wie wir sie jetzt erleben, ist hingegen keine Zeit vorhanden für ausgedehnte fachliche Besprechungen. Jetzt muss umgesetzt und gehandelt werden. Dass alle Fachpersonen dabei Weisungen und Regelungen möglichst einheitlich umsetzen, ist zudem dem Sicherheitsgefühl der Klienten und Klientinnen zuträglich und verhindert zusätzliche Unruhe und Verwirrung. Wenn später aber wieder ruhigere Zeiten einkehren und die gröbste Krise vorüber ist, dann bleibt es wichtig, das Geschehene zusammen zu besprechen und zu verarbeiten. Das gilt für das Fachpersonal wie auch für die begleiteten Personen mit Behinderung. Ansonsten drohen Schädigungen zurückzubleiben, die die betroffenen Menschen wie auch zukünftige betriebsinterne Prozesse beeinträchtigen können.
Es ist mir ein Anliegen, an dieser Stelle zu erwähnen, dass obige Beschreibungen auch auf Bezugspersonen im Umfeld der Angehörigen zutreffen. Viele betreuende Eltern, Geschwister, Onkel und Tanten von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung zeigen zurzeit ein Höchstmass an Engagement und erleben herausforderndste Situationen zu Hause. Viele Eltern begleiten in der Krise ihre Söhne und Töchter mit Behinderung rund um die Uhr, da bestehende Angebote von einem Tag auf den anderen ausgefallen sind. Dabei können viele ihrem aktuellen Beruf kaum mehr nachgehen, können sich die körperlich und psychisch anstrengende Betreuungs- und Pflegearbeit mit niemandem teilen und erhalten dafür auch keine finanzielle Entschädigung. Hinzu kommt die familiär-emotionale Verbindung zur Person mit Behinderung, die unter Umständen gar einer momentanen Risikogruppe angehört. Die Sorge um den Gesundheitszustand einer geliebten Person ist eine zusätzliche Belastung in dieser bereits ausserordentlichen Situation.
Für alle Betreuungspersonen ist nun adäquate Unterstützung und auch Wertschätzung gefragt.
Für alle Betreuungspersonen, seien es Fachpersonen oder Angehörige, ist nun adäquate Unterstützung und auch Wertschätzung gefragt. Es ist wichtig, dass wir rasch entsprechende Möglichkeiten finden.
Einige Punkte habe ich bereits in der obigen Frage angerissen, vor allem, was den Umgang miteinander im Team betrifft. Gerne kann ich an dieser Stelle noch ein paar weitere Überlegungen anbieten. Was eine einzelne Person dann auch als wirklich unterstützend erlebt, das kann nur jeder und jede für sich selber entscheiden.
Simone Rychard ist lic. phil. Psychologin und leitet die Fachstelle Lebensräume. Die Fachstelle Lebensräume ist eine Dienstleistung von insieme Schweiz. Das Angebot umfasst psychologische Beratung und Begleitung für Menschen mit einer geistigen Behinderung in schwierigen Lebenssituationen und für ihre Angehörigen. Die Fachstelle steht auch Fachpersonen im Rahmen einer Kurzberatung für Auskünfte, Informationen und Kontaktvermittlungen zur Verfügung.
Lebensräume von insieme Schweiz
Bild: iStock/pxel66
Die Situation umfassend beeinträchtigter Menschen ist mir bisher noch eher zu wenig im Blick. Das Forum basal (www.forumbasal.de) versucht, speziell hierzu einen Austausch zu organisieren.