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CORONAVIRUS | Auf dem Weg zur Solidarwirtschaft

05. Juni 2020 / Patricia Michaud
So schmerzhaft die Corona-Krise ist: Sie bietet auch die Chance, unsere Gesellschaft tiefgreifend und nachhaltig zu verändern. Laut Jonathan Normand, Experte für eine inklusive Wirtschaft und Leiter des B Lab Switzerland, gilt es nun, auch kurze Transportwege und eine regionale Versorgung fördern. Hier haben soziale Unternehmen gute Karten.

Die Corona-Krise hat unser Leben entschleunigt. Auch Sie rufen dazu auf, dies als Chance zu sehen und unsere Gesellschaft tiefgreifend zu verändern. Warum?

Diese Krise hat enormes Leid gebracht und verursacht auch weiterhin viel Not. Der durch das Coronavirus hervorgerufene allgemeine Wirtschaftsstillstand bietet jedoch auch die einmalige Gelegenheit, unsere Lebensweise, unsere Beziehungen zu anderen und unsere Konsumgewohnheiten zu überdenken. Im weiteren Sinne wird es dadurch möglich, die Spielregeln neu zu definieren und der Wirtschaft einen neuen Sinn und Zweck zuzuweisen sowie den Kapitalismus neu zu denken und ihn an den wirklichen Bedürfnissen der Menschen sowie den ökologischen Grenzen unserer Erde auszurichten.

Wie könnten diese neuen Spielregeln aussehen?


Die Wirtschaft muss dafür einen um- fassenden Beitrag leisten und die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung der Agenda 2030 der UNO anstreben*. Diese sieht vor, das Wachstum dazu zu nutzen, Inklusion, Solidarität und Nachhaltigkeit als Säulen unseres Modells zur wirtschaftlichen Entwicklung zu fördern. Ein konkretes Modell, das zunehmend von sich reden macht, ist die «Donut-Ökonomie» der Ökonomin Kate Raworth. Damit soll beispielsweise die Wirtschaftsstrategie von Amsterdam neu gestaltet werden.

Wenn man einen Wandel heraufbeschwört, gewinnt die Skepsis meist die Oberhand. Schaffen wir es wirklich, Lehren aus Covid-19 zu ziehen?

Der Gedanke, dass wir diese Chance des Wandels verstreichen lassen und unsere Gewohnheiten nicht ändern, macht mir Angst. Aber ich bin Optimist. Das kommt nicht von ungefähr. Ich er- innere daran, dass die Dringlichkeit des sozialen und ökologischen Wandels ja bereits vor der Corona-Krise immer mehr ins Bewusstsein rückte. Das hat zum Beispiel die «grüne Welle» bei den Parlamentswahlen in der Schweiz gezeigt. Covid-19 hat schwerwiegende Konsequenzen, gehört aber auch zu jenen Schockerlebnissen, die uns die künftige Gesellschaftsordnung überdenken lassen. Dieser Trend muss nun seine erste Nagelprobe bestehen.

Seine erste Nagelprobe?

Vor der Krise hörte man oft, die moder- ne Welt sei wie eine teuflische Dampf- walze, die sich nicht stoppen lasse. In den letzten Monaten hat sich das Gegenteil gezeigt. Dieser brutale Still- stand wird nicht ohne wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen bleiben. Wir haben nun den Beweis, dass sich die weltweite Produktion anhalten lässt und sich die Erde trotzdem weiter- dreht. Gleiches gilt für den Verkehr und kurze Transportwege. Früher dachten Flugzeug-Fans: Ohne Fliegen geht es nicht. Aber es geht! Der durch das Virus hervorgerufene grosse Umbruch hat gezeigt, dass die Staaten immer noch das Sagen haben, wenn es um Politik und Regierungsführung geht. Spanien ist sogar auf dem besten Weg, ein bedinungsloses Grundeinkommen einzuführen. Man darf hoffen, dass sich andere Länder anschliessen.

Wir haben schon andere Krisen, Pandemien und Rezessionen erlebt. Und doch scheinen wir nichts gelernt zu haben. Warum sollte es dieses Mal anders sein?

Im Gegensatz zu früheren Pandemien und insbesondere zur Spanischen Grippe, die oft zum Vergleich herangezogen wird, ist die Covid-19-Pandemie einzigartig. Die absolute Vernetztheit und Mobilität, die unsere moderne Gesellschaft prägen, haben alles verändert. Die einfache Verfügbarkeit von Informationen führt zu einer allgemeinen Sensibilisierung. Gleichzeitig stehen wir heute dank neuer Kommunikationstechnologien, aber auch aufgrund desumfangreichen Verkehrsangebots in viel engerem Kontakt mit Freunden und Familie, selbst wenn diese weiter entfernt wohnen. Deshalb fühlt man sich stärker betroffen, was ein verbreitetes Gefühl von Solidarität auslöst.

Kann man also hoffen, dass es künftig mehr Solidarität geben wird?

Echte Solidarität wird erst im Handeln sichtbar. In der Vergangenheit bestand Solidarität in der Schweiz häufig darin, Geld für ein Hilfswerk zu spenden. In Zeiten von Covid-19 werden wir Zeugen eines solidarischen Engagements, das in seiner Art noch nie dagewesen ist. Denken Sie nur an all die Menschen, die für ihre älteren Nachbarn einkaufen. Beim solidarischen Handeln spielt das Gefühl der Befriedigung eine so wichtige Rolle, dass man zum Wiederholungstäter wird. Deshalb bin ich guter Hoffnung, dass diese Dynamik anhält.

Ist eine solidarischere Gesellschaft auch inklusiver?


Definitiv. Eine der beiden Säulen einer inklusiven Wirtschaft besteht darin, dass sich so viele Menschen wie möglich solidarisch zeigen und einen Bei- trag zum System leisten. Die ökologische und solidarische Wende bringt Regionen und Gemeinschaften Widerstandskraft, Geselligkeit, Wohlbefinden und weitere Vorteile.

Sie sind überzeugt, dass sich unsere Gesellschaft durch die Corona-Krise nicht nicht ändern kann. Welcher Art werden diese Veränderungen Ihrer Meinung nach sein?

Eine der tiefgreifendsten Veränderungen wird wohl den Konsum betreffen. Wie die Corona-Krise gezeigt hat, ist unser System viel zu globalisiert, alles erfolgt «just in time». In den letzten Monaten haben wir erstmals seit Langem (wieder) kurze Transportwege und einen Arbeitsplatz in Wohnortnähe schätzen gelernt. Ich gehe davon aus, dass sich die Versorgung in Europa stärker regionalisieren wird. Gleichzeitig ist es ratsam, darüber nachzudenken, was überflüssig ist, und den Konsum nüchterner zu gestalten. Können wir wirklich nicht ohne all die Billigprodukte leben, die auf Kosten der Umwelt und der Menschlichkeit produziert werden? Die derzeitige Phase der Entschleunigung, in der wir uns nicht mehr so stark abstrampeln, bietet Gelegenheit, innezuhalten und nachzudenken.

Denken Sie, dass die Entstehung eines Modells, das auf kurzen Versorgungswegen basiert, eine Chance für die sozialen Unternehmen ist?

Ich glaube, dass man stärker solidarisch und sozial wirtschaften wird. Und ich habe die Hoffnung, dass staatliche Stellen dies mit strukturellen Massnahmen zusätzlich fördern. Nachdem die Solidar- und Sozialwirtschaft lange Zeit wie das fünfte Rad am Wagen behandelt wurde, wird sie zum Vorzeigemodell. In der Folge könnte die integrative Funktionsweise der sozialen Unternehmen zum Nachahmen anregen.

Was ist zu tun, damit die Nachhaltigkeitsziele politisches Gehör finden?

Das muss ein zentrales, parteiübergreifendes Ziel sein. Seit Kurzem hat die Schweiz zwei Botschafter für die Agenda 2030. Gleichzeitig startet die Bevölkerung immer mehr Petitionen. Diese durch die Digitalisierung gestützte Entwicklung wird dafür sorgen, dass Nachhaltigkeitsfragen wichtig bleiben. Vor der Krise gab es bereits zahlreiche Initiativen, die in diese Richtung gingen. Berücksichtigt man nun noch den in mehreren Kantonen ausgerufenen Klimanotstand, dann führt kein Weg mehr daran vorbei, menschliches Wohl und Umweltschutz ins Zentrum unserer Entscheidungen zu rücken.


Links und Referenzen

Agenda 2030

Donut-Ökonomie, Kate Rawort, Carl Hanser Verla, 2018

 

Unser Gesprächspartner

Wir danken Jonathan Normand, dass er sich Zeit für uns genommen hat.

Jonathan Normand ist Experte für eine inklusive Wirtschaft und Leiter des B Lab Switzerland.

Das Interview hat Patricia Michaud für INSOS-Magazin geführt.
Patricia Michaud ist freiberufliche Journalistin BR.

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