INKLUSIVE ARBEITSWELT | «Entscheidend ist eine gute Durchlässigkeit»

30.07.2022 Elisabeth Seifert

Es besteht ein Potenzial, noch mehr Menschen
mit Beeinträchtigung in den allgemeinen Arbeitsmarkt
zu begleiten. Davon ist Beda Meier, ein Vertreter des ergänzenden Arbeitsmarktes, überzeugt. Heute fehlen aber die dafür nötigen Finanzierungen an der Nahtstelle zwischen den beiden Arbeitsmarkttypen, hält er kritisch fest.

Herr Meier, Menschen mit Behinderung sollen in einem offenen, integrativen Arbeitsmarkt tätig sein können, so fordert es die UN-BRK. Ein realistisches Ziel oder reine Utopie?

Das ist ein hehres Ziel. Und natürlich müssen wir alles daransetzen, dass Men­schen mit Beeinträchtigung auf dem all­ gemeinen Arbeitsmarkt eine Anstellung finden und ihren Lebensunterhalt über ein existenzsicherndes Einkommen decken können.

Aber wir wissen alle, dass der allgemeine Arbeitsmarkt nicht für alle entsprechende Jobs bereitstellt. Der allge­meine Arbeitsmarkt stellt hohe Anforde­rungen an die Leistungsfähigkeit der Arbeitnehmenden. Er funktioniert nach dem Prinzip Geld für Leistung. Und es gibt eben Menschen, die der allgemeinen Vorstellung, was Leistung ist, nicht entsprechen.

Wie offen und integrativ ist der Arbeitsmarkt in der Schweiz heute für Menschen mit Unterstützungsbedarf?

Je besser die Konjunktur läuft und je höher die Nachfrage nach Arbeitskräften ist, desto eher gibt es Nischenarbeitsplät­ze für teilleistungsfähige Menschen. Par­allel zu den steigenden und abnehmen­ den Arbeitslosenzahlen bestehen mehr oder weniger gute Chancen für Menschen mit Behinderung.

Unabhängig davon gibt es aber gemäss unserer Erfahrung immer Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, die Menschen eine Chance geben, obwohl sie nicht voll leistungsfähig sind.

Sie sprechen die Erfahrungen an, die Sie beim sozialen Unternehmen Valida machen?

In den Produktionsbetrieben der Valida arbeiten rund 200 Erwachsene mit Unterstützungsbedarf. Und jedes Jahr schaffen 10 Prozent, also 20 Mitarbei­tende, den Übertritt in den offenen Ar­beitsmarkt. Das sind nicht immer Voll­zeitübertritte, zum Teil handelt es sich um sogenannt hybride Arbeitsformen: Dabei arbeitet jemand zum Beispiel zwei Tage bei uns und drei Tage im offenen Arbeitsmarkt.

«Uns sind aber sehr oft die Hände gebun­den durch die kantonalen Gesetze.»

Die UN-BRK und die Behindertenorganisationen fordern in einem sehr radikalen Sinn die Integration in den offenen Arbeitsmarkt und die Reduktion der geschützten Werkstätten. Ihre Meinung?

In unserer Welt erfolgt die Existenzsiche­rung in der Regel über eine Anstellung im offenen Arbeitsmarkt. Dieser erste Arbeitsmarkt ist aber nicht für alle Menschen das gelobte Land. Das Ent­scheidende ist, dass es eine gute Durch­lässigkeit gibt zwischen diesen beiden Arbeitsmarkttypen. Es gibt nicht einfach ein Entweder­ oder.

Diese Durchlässigkeit ist aber noch längst nicht dort, wo sie sein sollte?

Die Arbeitswelt, auch wir als Anbieter von Dienstleistungen für teilleistungs­fähige Menschen, müssen alles daranset­zen, dass wir eine höhere Durchlässigkeit haben. Die Valida und alle Sozialunter­ nehmen, mit denen ich im Kontakt stehe, verstehen sich als Chancenbetriebe und setzen sich für mehr Durchlässigkeit ein. Uns sind aber sehr oft die Hände gebun­den durch die kantonalen Gesetze.

Die kantonalen Gesetzgebungen verhindern die Durchlässigkeit?

Aktuell werden quer durch die Schweiz die kantonalen Behindertengesetze überarbeitet. Bei all diesen Revisionen geht es aber vor allem um den Wohnbereich. Mittels neuer Finanzierungsmodelle sol­len Menschen mit Unterstützungsbedarf frei entscheiden können, wo und mit wem sie wohnen möchten. Das ist zwei­fellos eine wichtige Forderung.

Die Frage von Chancen und Rechten im Bereich Arbeit und Tagesstrukturen wird in der Schweiz aber im Moment nicht disku­tiert.

«Auf Bundesebene finanziert die IV einige ambulante Dienstleistungen, aber noch zu wenig.»

Was fordern Sie konkret?

Es gibt heute für alle Dienstleistungen an der Nahtstelle zwischen dem offenen und dem ergänzenden Arbeitsmarkt keine Finanzierungen. Die Kantone sehen sich einzig zuständig für den sogenannt stati­onären Bereich. Wir erhalten also nur Gelder für unsere Plätze in den Werkstät­ten, aber keine Finanzierung, um teilleis­tungsfähige Mitarbeitende in den ersten Arbeitsmarkt zu begleiten und sie selbst sowie das Arbeitsumfeld dort zu unter­ stützen. Auf Bundesebene finanziert die IV einige ambulante Dienstleistungen, aber noch zu wenig.

Sie kritisieren die strikte Aufteilung in stationäre und ambulante Dienstleistungen?

Wir müssen wegkommen von der Vorstel­lung stationär versus ambulant. Finan­ziert werden müssen massgeschneiderte Dienstleistungen für Menschen mit Unterstützungsbedarf, die einen Beitrag leisten zur Chancengleichheit. An der Nahtstelle zwischen ergänzendem und erstem Arbeitsmarkt beispielsweise müss­ten Dienstleistungen finanziert werden, welche eine gute Durchlässigkeit unter­stützen.

So wie die Finanzierung jetzt läuft, können Sozialunternehmen eigentlich gar kein Interesse daran haben, ihre Mitarbeitenden in den offenen Arbeitsmarkt zu begleiten?

Das ist richtig. Wenn einer unserer Mit­ arbeitenden den Übertritt schafft, verlie­ren wir Geld. Und dennoch setzen wir alles daran, Mitarbeitende beim Übertritt zu unterstützen, obwohl wir, wie gesagt, dafür keine Finanzierung erhal­ten.

Aufgrund dieser Situation sind wir gefordert, jedes Jahr deutlich schwarze Zahlen zu schreiben und Reserven aufzu­bauen, damit wir Vakanzen überbrü­cken können. Und wenn die Nachfrage da ist, bieten wir neuen Mitarbeitenden in unseren Produktionsbetrieben natür­lich eine Stelle an.

«Sinnvoller als gesetzlich festgelegte Quoten wäre es, Arbeitgebenden eine Sicher­heit zu geben, dass sie teilleistungsfähige Menschen anstellen können, ohne ein erhöhtes Risiko einzugehen.»

Braucht es neben einer besseren Finanzierung an der Nahtstelle zwischen den Arbeitsmärkten nicht auch Quoten, damit mehr Arbeit- gebende teilleistungsfähige Menschen beschäftigen?

Wenn die Sozialunternehmen bessere Rahmenbedingungen erhalten, um noch mehr Mitarbeitende in den offenen Ar­beitsmarkt zu begleiten, wird das auch auf die Arbeitgebenden ausstrahlen. Von einer gesetzlichen Verpflichtung mittels Quoten halte ich nicht sehr viel. Die Aus­sicht auf Erfolg ist dann gegeben, wenn Arbeitgebende bereit sind, teilleistungs­fähigen Mitarbeitenden eine Chance zu geben. Das lässt sich nicht verordnen.

Sinnvoller als gesetzlich festgelegte Quoten wäre es, Arbeitgebenden eine Sicher­heit zu geben, dass sie teilleistungsfähige Menschen anstellen können, ohne ein erhöhtes Risiko einzugehen.

Wie wird das möglich?

Die Arbeitgebenden im offenen Arbeits­markt müssen wissen, dass sie auf die Sozialunternehmen als Fallnetz zurück­ greifen können. Auch für die Mitarbei­tenden selber ist es sehr wichtig zu wissen, dass sie bei Bedarf wieder im ergänzen­ den Arbeitsmarkt tätig sein können. Und dass sie auch wieder eine IV­-Rente erhal­ten können, obwohl sie vielleicht längere Zeit nicht darauf angewiesen waren. Auch das ist wieder eine Frage der Durch­lässigkeit.

Wie beurteilen Sie die Bereitschaft, der sozialen und sozialmedizinischen Unternehmen, teilleistungsfähigen Menschen eine Chance zu geben?

Hier besteht sicher noch einiges Potenzial. Gerade an der Schnittstelle von Hotellerie und Betreuung können solche Mitarbei­tende einen wertvollen Beitrag leisten. Bei der Valida setzen wir Mitarbeitende mit einer IV­-Rente in der Begleitung und Betreuung von Personen ein, die in einem ambulanten Wohnsetting leben. Am ein­fachsten ist es natürlich, wenn man für diese Betreuungsarbeit Sozialpädagogin­:nen und Sozialpädagogen anstellt, die alle Aufgaben übernehmen können. Be­stimmte Betreuungsarbeiten können aber sehr wohl auch teilleistungsfähige Mitar­beitende kompetent wahrnehmen. Die Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft der Führungscrews, sich darauf einzu­lassen. Zudem braucht es andere Arbeits­- und Kompetenzmodelle.

«Es geht darum, die ganze Arbeit neu zu denken.»

Sprechen Sie hier auf eine kleinteiligere Organisation der Arbeit an?

Es geht darum, die ganze Arbeit neu zu denken. Die Verantwortlichen müssen die Abläufe so definieren, dass es auch Drei- ­und nicht nur Zwölf­-Schritt­ Aufgaben gibt. Und dann geht es darum, sich zu überlegen, wie man die Mitarbei­tenden einsetzen kann.

Eine solche neue Arbeitsorganisation im Pflege­ und Sozi­albereich könnte dann auch zu einer Entlastung der gut Ausgebildeten führen, die sich auf die anspruchsvollen Tätigkei­ten konzentrieren können.

Dieses Neu-Denken von Arbeitsabläufen lässt sich auf viele Branchen ausweiten?

Das ist beliebig multiplizierbar. Wir machen die Erfahrung, dass Betriebe, die in der Lehrlingsausbildung erfolgreich sind, sehr gut darin sind. Für einen 16-jährigen Lernenden muss die Arbeit auch stark portioniert werden. Zudem brauchen Lernende wiederholte Erklärungen. Unsere Wirtschaft ist also in der Lage, Menschen mit Teilleistungsfähig­keiten zu beschäftigen.

Zurück zum ergänzenden Arbeitsmarkt: Die Behindertenorganisationen kritisieren die tiefen Löhne, die geringen Aufstiegschancen und die fehlenden Wahlmöglichkeiten. Was entgegnen Sie?

Was die tiefen Löhne betrifft: Mitarbei­tende mit Unterstützungsbedarf können keinen existenzsichernden Lohn erzielen. Das ist unschön, aber es ist so. Sie sind deshalb auf eine IV­-Rente angewiesen. Wir machen in der Valida konkret die Erfahrung, dass unsere Mitarbeitenden einen Lohn für eine bestimmte Leistung wollen und nicht eine Rente. Wir zahlen aktuell einen Durchschnittslohn von rund 1100 Franken. Maximal sind 2800 Franken möglich. Diese Lohnhöhe kann aber zu einer Kürzung der Rente führen, wodurch die Mitarbeitenden am Ende des Tages wieder gleich viel Geld im Sack haben wie alle anderen auch, die nicht arbeiten.

In aller Regel fallen bei hohen Löhnen für Arbeitnehmende mit IV als Erstes die EL weg. Das heisst, dass die Löhne des sozialen Unternehmens nicht den Arbeitnehmenden mit IV zu­ gute kommen, sondern die EL­-Rechnung des Kantons entlasten.

«Ein Sozialunter­nehmen kann über den Lohn hinaus sehr viel bieten.»

Von höheren Löhnen profitieren also vor allem Bund und Kantone, sie bringen aber den Mitarbeiten- den nichts und führen dazu, dass ihre Gewinne schmelzen...

Jemand, der eine IV­- Rente bezieht und arbeitet, müsste mehr haben, als wenn er nicht arbeitet. Es müsste eine Art Bonus geben. Eine bessere Leistung müsste zu­ dem zu höheren Löhnen führen. Wir haben bei uns ein Lohnsystem, bei dem jemand, der eine bessere Leistung bringt, auch mehr verdienen kann.

Wir sind auch daran, ein System zu entwickeln, bei dem jemand eine Hilfsgruppenleitung übernehmen kann und dadurch mehr verdient. Die Mitarbeitenden haben aber eben dennoch nicht mehr Geld zur Ver­fügung, und gleichzeitig besteht die Ge fahr, dass wir finanzielle Probleme haben. Ich bin überzeugt: Ein Sozialunter­nehmen kann über den Lohn hinaus sehr viel bieten.

Wo liegt der Mehrwert eines Sozialunternehmens?

Die Menschen, die in einem Sozialunter­ nehmen arbeiten, haben eine Tagesstruk­tur, eine Berufsidentität, ein Arbeitsumfeld und leisten einen Beitrag zur Wirtschaft. Damit verbunden ist auch ein soziales Umfeld, sie können zudem eine berufliche Entwicklung machen, Weiterbildungen besuchen sowie Freizeit­ und Kulturangebote buchen. Im Lauf der letzten Jahre hat sich auch die Vielfalt der Berufe stark entwickelt. Mitarbeitende im ergänzenden Arbeitsmarkt haben heute eine riesige Wahlmöglichkeit. Gerade hier zielt die Kritik der Behinder­tenorganisationen völlig ins Leere.

Sie werben sehr bewusst für ein positiveres Image von Sozialunternehmen?

Es ist eine grosse Leistung unserer Gesell­schaft, dass teilleistungsfähige Menschen an einem Ort arbeiten können, der sich nicht vollständig über ihre wirtschaftli­che Tätigkeit finanzieren muss. Wir hal­ten Menschen in der Gesellschaft, wir ermöglichen Chancen, weil sie bei uns gesund bleiben oder gesund werden können. Sie können sich persönlich und be­ruflich entwickeln, Kolleginnen und Kollegen haben, aktiv einen Beitrag an die Gesellschaft leisten. Das ist ein Mehr­ wert, den wir uns leisten sollten.

Wir machen das auch bei der Landwirtschaft: Die Schweiz ist bereit, die Landwirt­schaft mit viel Geld zu subventionieren, weil wir in der Landwirtschaft, wie wir sie heute kennen, einen Mehrwert sehen.

«Dabei sind in erster Linie die Kantone mit ihren Gesetzgebungen im Behindertenbereich gefordert, sich endlich zu bewegen.»

Wird es den ergänzenden Arbeitsmarkt immer geben?

Es wird immer Leute geben, die auf ein solches unterstützendes Setting angewie­sen sind. Ich warne davor zu glauben, dass es den ergänzenden Arbeitsmarkt einmal nicht mehr brauchen wird.

Aber es besteht ein grosses Potenzial, noch mehr Menschen in den offenen Arbeitsmarkt zu begleiten, wenn endlich die Rahmen­bedingungen weiterentwickelt und opti­miert werden. Dabei sind in erster Linie die Kantone mit ihren Gesetzgebungen im Behindertenbereich gefordert, sich endlich zu bewegen. Dann könnten wir als spezialisierte Dienstleister für Men­schen mit Unterstützungsbedarf nämlich einen zeitgemässen Beitrag leisten an die Chancengerechtigkeit im Sinne der UN- BRK.


Unser Gesprächspartner

Beda Meier ist Direktor des sozialen Unternehmens Valida in St. Gallen und Präsident der Kommission Arbeitswelt des Branchenverbands INSOS.

 

Foto: Valida

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