INKLUSIVE ARBEITSWELT | «Wichtig: Eine offizielle Anlaufstelle für die Lehrbetriebe»

30.07.2022 Claudia Weiss

Jugendliche mit psychischen Problemen haben oft Schwierig­keiten beim Übertritt von der Schule in die Lehre. Zwei Jahre Corona und jetzt noch der Ukraine-Krieg haben das Problem verschärft, viele Jugendliche können eine Lehre in der üblichen Form nicht meistern. Ihnen, findet Christine Davatz, könnten angepasste Lehrabläufe helfen. Und Ausbildungsbetriebe bräuchten eine geeignete Beratungsstelle.

Frau Davatz, gemäss der Studie «Umgang mit psychisch belasteten Lernenden» (siehe Link) kämpfen viele Jugendliche mit psychischen Problemen, fast die Hälfte von ihnen erleben dadurch problema­tische Ausbildungsverläufe. Wie wirkt sich das auf ihre Bildungschancen aus?

Unser Duales Bildungssystem mit dem Grundsatz «kein Abschluss ohne Anschluss» passt vor allem für Jugendliche, die in einer Lehre physisch und psychisch gut bestehen können.

Zum Glück haben wir mit dem Eidgenössischen Berufsattest EBA auch gute Möglichkeiten für Jugendliche, die aufgrund einer psychischen Beeinträchtigung oder einer Lernschwäche nicht mit einem Eidgenössischen Fähigkeitszeugnis EFZ abschliessen können: Die Attestlehre hat die frühere Anlehre abgelöst, die einzig mit einem nicht reglementierten Augenschein durch Berufs­leute abgeschlossen wurde. Im Gegensatz dazu ist die Ausbildung zum Berufsattest eidgenössisch geregelt und folgt einem klaren Bildungsplan.

Das bedeutet, dass die Jugend­lichen später allenfalls noch eine EFZ-Ausbildung anhängen können. Dann ist also alles gut eingefädelt?

Es ist tatsächlich eine sehr gute Möglichkeit für viele. Sie bedeutet allerdings auch, dass etliche von jenen, die nach altem System eine Anlehre gemacht hätten, zwischen Stuhl und Bank fallen: Nicht alle von ihnen können auch eine Attestlehre bestehen.

«Der IKN ist ein wichtiges Instrument auf dem Weg der beruflichen Integration für Jugendliche.»

Das heisst also, einigen fehlt quasi eine Zwischenstufe für den vereinfachten Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt?

Genau: Es braucht unbedingt etwas für jene, die eine berufliche Grundbildung mit dem Eidgenössischen Berufsattest EBA nicht bestehen, etwas, das positiv formuliert ist: «Schau, das alles kannst du!» Heute füllt der Individuelle Kompetenznachweis IKN diese Lücke zum Teil: Dieser wurde zusammen mit den Berufsverbänden erarbeitet, damit alle von den gleichen Anforderungen ausgehen können. Gegenwärtig existiert der IKN erst für bestimmte Berufe, er soll aber laufend erweitert werden, denn er ist ein wichtiges Instrument auf dem Weg der beruflichen Integration für Jugendliche, die aufgrund von psychischen Schwierigkeiten auch die Anforderungen einer EBA-Lehre nicht bestehen.

Ganz wichtig ist: Damit ein Übergang in den ersten Arbeitsmarkt gut gelingen kann, müssen die Berufsverbände bei der Gestaltung solcher neuen Ausbildungsmöglichkeiten mitreden können. Dabei entstehen oft intensive Diskussionen.

Worin liegen die Schwierigkeiten bei ­solchen Diskussionen?

Die Berufsverbände müssen ohnehin alle fünf Jahre ihre Ausbildungen aktualisieren, dann sollten sie sich auch um Flüchtlinge kümmern und um die Jugendlichen mit Lernschwierigkeiten und jene mit psychischen Problemen – und dann auch noch den individuellen Kompetenznachweis entwickeln. All das, wo doch aufgrund des Fachkräftemangels ohnehin zu wenig Leute in der Berufsbildung eingesetzt werden können.

Teils fehlen daher schlicht die Kapazitäten. Teils sind psychische Probleme aber auch ein heikles Thema, und viele wissen nicht so recht, wie sie es ansprechen sollen. Dabei ist es enorm wichtig, dass die Berufsverbände diese Unterstützung selber anbieten wollen, denn wir können sie ihnen nicht aufzwingen: Es braucht die Betriebe, die das dann tragen und umsetzen.

«Aber längst nicht alle sind psychologisch, pädagogisch und didaktisch gebildet.»

So gesehen, wird das Ausbilden eine immer anstrengendere Aufgabe.

Tatsächlich vergessen wir oft, dass Betriebe nicht in erster Linie die Ausbildung zur Aufgabe haben, sondern vor allem produzieren müssen. Trotzdem bieten die Kleineren und Mittleren Unternehmen, die KMU, 70 Prozent aller Lehrstellen an, und sie machen das meist sehr gut.

Aber längst nicht alle sind psychologisch, pädagogisch und didaktisch gebildet. Bürdet man ihnen jetzt eine zusätzliche Last auf, indem man ihnen die ganze Verantwortung und die teils aufwendige Betreuung von psychisch kranken Jugendlichen überlässt, werden einige ihre Konsequenzen ziehen und einfach nicht mehr ausbilden.

Was also brauchen die Ausbildenden zur Unterstützung?

Wir müssen ihr Bewusstsein dafür stärken, dass sie eine wichtige Funktion inne­haben: Es liegt in ihrer Hand, ob Jugendliche nicht nur arbeitsmarktfähig gemacht werden, sondern auch einen Berufsstolz entwickeln und Topqualität liefern wollen. Deshalb müssen wir sehr aufpassen, dass wir dieses gute System nicht an die Wand fahren.

Sehr wichtig für die Lehrbetriebe wäre eine offizielle, branchen­nahe Anlaufstelle, die einheitlich, unkompliziert und rasch funk­tioniert, anstelle der heutigen 26 gutschweizerischen Varianten. Am besten wäre eine Anlaufstelle, die vom Berufsverband gestellt wird, damit die Beratenden auch die branchenübliche Sprache und Probleme kennen.

Und was auf der anderen Seite benötigen psychisch belastete Jugendliche?

Oft ist für sie die zeitliche und emotio­nale Belastung einer normalen Lehre zu gross. In zwei Jahren Covid hat die Resilienz vieler Jugendlicher enorm gelitten, viele haben besondere Bedürfnisse und brauchen mehr Zeit. Daher müsste es eigentlich eine individualisierte Berufslehre geben. Allerdings ist das einfacher gesagt als getan.

Nehmen wir einen Handwerker mit seinem Betrieb, der seine Aufträge fristgerecht erledigen muss: Dieser hat oft nicht Zeit, sich noch um die psychische Belastung eines Lernenden zu kümmern, und er ist auch nicht dafür ausgebildet, sondern versucht das einfach im Alltag irgendwie zu managen. Notlösungen, beispielsweise die Abmachung, dass der oder die Lernende 10 Prozent weniger arbeiten muss, helfen oft nur scheinbar und höchstens vorübergehend: Die Leistung muss ja trotzdem erbracht werden, allerdings in noch weniger Zeit. Das gibt Jugendlichen, die schon Druck haben, bloss noch mehr Druck.

«Die Lehren für junge Menschen mit besonderen Bedürfnissen – kognitiv oder psychisch – sollten nicht kürzer dauern, sondern im Gegenteil sogar ein Jahr länger.»

Was wäre also für diese Jugendlichen hilfreicher?

Das ist der zentrale Punkt: Jugendliche mit psychischen Schwierigkeiten benötigen eigentlich mehr Zeit. Sie müssen am Morgen eine Stunde später anfangen dürfen, wenn sie in der Nacht schlecht schlafen. Oder einen Nachmittag mehr frei erhalten, um in dieser Zeit eine Therapie besuchen zu können. Da lassen sich zwar mit gutem Willen gute individuelle Lösungen finden. Vor allem aber sollte die ganzheitliche Einstellung ändern.

Die Verkürzung einer Lehre auf zwei Jahre EBA kommt eigentlich quer: Stattdessen sollten genau die Lehren für junge Menschen mit besonderen Bedürfnissen – kognitiv oder psychisch – nicht kürzer dauern, sondern im Gegenteil sogar ein Jahr länger. Das würde bedeuten, dass sie mehr Zeit für weniger Lehrstoff und ein Jahr zusätzliche Unterstützung erhalten, beispielsweise für die überbetrieblichen Kurse. Das ist aber noch keineswegs spruchreif, denn alle sehen immer nur die Kosten. Dabei geht es ja um das ganze Arbeitsleben: Es ist doch ein Riesenziel, etwas zu finden, das einen zufrieden macht.

Müssten denn Ausbildende sich ihrer Rolle bewusster werden und besser auf die Jugendlichen achten?

Sie können die Lernenden darin bestärken, sich bei Schwierigkeiten Unterstützung zu suchen und ihnen dann eben die dafür nötige Zeit zur Verfügung stellen: Damit ermöglichen sie den Jugendlichen, an einem Unterstützungsangebot der Berufsfachschule teilzunehmen oder Zeit für eine Therapie zu finden.

«Dort ist die Versuchung gross, sich zurückzulehnen und sich eben ‘coachen zu lassen.».

Hilfreich ist zudem, wenn die Ausbildenden von Anfang an ihre Erwartungen an die Jugendlichen transparent kommunizieren und diese schon früh ansprechen, sobald sie Auffälligkeiten feststellen.

Solche Massnahmen erachte ich als wichtiger als die zurzeit sehr beliebten Coachings: Dort ist die Versuchung gross, sich zurückzulehnen und sich eben «coachen zu lassen». Das Ziel sollte jedoch Hilfe zur Befähigung sein, nicht ein Abhängigmachen: Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht!

Was wäre also stattdessen «gut gemacht»?

Alle Massnahmen sollten die Jugend­lichen gezielt resilient machen – nicht abhärten, aber sie befähigen. Das ist die grosse Chance des Individuellen Kompetenznachweises, der auf dem aufbaut, was Jugendliche können. Ich hoffe sehr, dass dieser noch mehr Schub erhält.

Was sonst sollte die Zukunft Ihrer Meinung nach idealerweise bringen?

Wir müssen die Jugendlichen rechtzeitig auffangen, Problemfälle lösen, damit nicht viele auf die irreführende Idee kommen, das Gymnasium sei beispielsweise für Jugendliche mit psychischen Problemen der einfachere, «weichere» Weg: Stattdessen müsste der Berufsberatungsprozess so gut laufen, dass gezielt ein Weg gefunden werden kann. Auf www.anforderungsprofile.ch lässt sich bereits eine erste Auswahl treffen, und dann sollte gezielt nach Neigung und Eignung abgeklärt werden.

Sehr sinnvoll wäre es, in diesem Prozess auch gleich die psychische Belastbarkeit zu messen und geeignete Berufsfelder zu finden: Wir haben die Möglichkeiten und die Mittel, wir müssen es nur machen.

«Bitte tragt Sorge zu unserem guten System und nützt die Chance!»

Sie hingegen machen beruflich keine grossen Schritte mehr: Sie sind Ende März pensioniert worden …

Ja, aber ich bin als aktives Mitglied von Rotary – einer weltweiten Service-Organisation, die gemeinnützige Ziele verfolgt – gut vernetzt und habe bereits eine Vision für die Unterstützung von Jugendlichen und Lehrbetrieben: Ich möchte engagierte Pensionierte aus diversen Branchen für ein Unterstützungsnetzwerk gewinnen, damit sie Jugendliche mit psychischen oder anderen Problemen ein wenig unter die Fittiche nehmen und ganz praktisch im Alltag unterstützen. Diese Seniorinnen und Senioren wären auch gute Ansprechpartner für die Betriebe, weil sie aus Erfahrung wissen, was Ausbilden im Alltag bedeutet.

Mir ist nämlich auch weiterhin sehr wichtig, alle Seiten für eine solide Berufsausbildung zu motivieren und allen zu sagen: Bitte tragt Sorge zu unserem guten System und nützt die Chance!


Unsere Gesprächspartneri

Christine Davatz, 64, Fürsprecherin und Notarin, war jahrzehntelang Vizedirektorin des Schweizerischen Gewerbeverbands sgv mit Spezialgebiet Bildungspolitik, Ende März 2022 wurde sie pensioniert. Sie ist unter anderem Mitglied des Fachhochschulrats der FHNW, der eidgenössischen Berufsbildungskommission EBBK und der Schweizerischen Hochschulkonferenz und des schweizerischen Hochschulrats.

Foto: privat

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