INKLUSIVE ARBEITSWELT | «Jeder Schritt in den ersten Arbeitsmarkt ist wichtig»

30.07.2022 Claudia Weiss

Thomas Müller bereitet Jugendliche im Ausbildungszentrum Steinhölzli auf eine möglichst reibungslose Integration in den ersten Arbeitsmarkt vor. Er vergleicht hier die Praktische Ausbildung PrA und das Eidgenössische Berufsattest EBA.

Herr Thomas Müller, Sie bereiten Jugendliche im Ausbildungszentrum Steinhölzli auf eine möglichst reibungslose Integration in den ersten Arbeitsmarkt vor: Welche Vor- und Nachteile haben Ihrer Erfahrung nach die Praktische Ausbildung PrA und das Eidgenössische Berufsattest EBA im Vergleich?

Beide Ausbildungsformen haben das Ziel, die Jugendlichen nach der Lehre in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Seit die Praktische Ausbildung nicht mehr ausschliesslich in Institutionen angeboten wird, sind beide Ausbildungen sehr gute Modelle: PrA ist eine sehr gute Einstiegsmöglichkeit für jene, die früher eine Anlehre gemacht hätten und schulisch die Anforderungen einer Attestlehre – noch – nicht erfüllen. Seit die PrA-Lernenden für den allgemeinbildenden Unterricht und den Sport die Berufsfachschule besuchen, hat sich auch für sie der erste Arbeitsmarkt geöffnet.

Die Lehrgänge lassen sich gut miteinander kombinieren: PrA-Lernende können später eine Attestlehre machen und so über einen etwas längeren Weg viel- leicht sogar – wie geeignete EBA-Lernende auch – ein Eidgenössisches Fähigkeitszeugnis erlangen.

«Egal ob PrA oder EBA: In jedem Fall ist es wichtig, dass die Qualität der Ausbildung gesichert wird.»

Was gilt es denn bei der Entscheidung für den jeweiligen Ausbildungsgang zu bedenken?

In jedem Fall ist es wichtig, dass die Qualität der Ausbildung gesichert wird und die Lernenden nicht zwei Jahre lang irgendwie beschäftigt werden, egal ob PrA oder EBA. Genau das bieten wir vom Steinhölzli: Wir achten darauf, dass Lehrplan und Qualität eingehalten werden, unterstützen die Lernenden und beraten die Betriebe, vor allem in Krisensituationen.

Betriebe kommen oft ans Limit mit Erklären, Verständnis haben und Fördern. Das erklären wir den Lernenden und vermitteln so zwischen ihnen und den Betrieben, wenn es schwierig wird.

«Ausbildungsbetriebe müssen sich bewusst sein, dass diese Lernenden einen besonderen Bedarf an Strukturen haben.»

Was sollten denn Ausbildungsbetriebe bedenken, wenn Sie PrA- oder EBA-Lehrstellen anbieten?

Sie müssen sich bewusst sein, dass diese Lernenden einen besonderen Bedarf an Strukturen haben und oft einen sehr klaren Rahmen brauchen.

Die Verantwortlichen der Betriebe müssen wissen, dass diese Jugendlichen nicht einfach als Selbstläufer durch die Lehrzeit kommen, sondern dass sie mehr Zeit und Betreuung benötigen: Was EFZ-Lernende nach einmal erklären verstehen, können EBA-Lernende manchmal nach dreimal noch nicht, PrA-Lernende vielleicht erst nach dem zehnten Mal.

PrA oder EBA – welches Modell bietet den Jugendlichen die besseren Chancen?

Bei uns absolvieren 70 bis 80 Prozent der Lernenden eine Praktische Ausbildung.

Gegenwärtig sehe ich dort fast die grösseren Chancen, besonders seit es für einige Berufe den Individuellen Kompetenznachweis gibt: So werden die Kompetenzen dieser Jugendlichen klar erkennbar, und spätere Arbeitgebende können sie genau für diese besonderen Nischen einsetzen.

Bei den Attestlehren besteht das Risiko, dass Arbeitgebende den Eindruck haben, die Jugendlichen könnten ja dies oder jenes. Hapert es dann, führt das auf beiden Seiten zu Enttäuschungen. Bei einer PrA hingegen wird eindeutig klar, dass die Jugendlichen nicht ‹fast dasselbe› können wie jene mit einer EFZ-Ausbildung. Dafür zeigen gerade diese Jugendlichen oft grosse Ausdauer, arbeiten sorgfältig und sehr motiviert. Das ist ein grosser Gewinn.

«Wir zeigen den Eltern, welch grossen Wert eine PrA hat.»

Besteht nicht die Gefahr, dass Jugendliche manchmal fast vorschnell auf eine Praktische Ausbildung aufgegleist werden, weil das die einfachste Lösung scheint?

Das erlebe ich gar nicht so: Das wird in jedem Fall genau ab-geklärt und überprüft. Ganz im Gegenteil drängen viele Eltern unbedingt auf eine EBA-Lehre, auch wenn diese schulisch gar nicht bewältigbar ist. Wir zeigen ihnen dann, welch grossen Wert eine PrA hat und wie gut sie den Zugang zu Arbeit und Weiterbildung gemäss UN-BRK gewährleistet.

Also kann man von einem Erfolgsmodell sprechen...

Ja, unbedingt. Ich begrüsse deshalb eine Weiterentwicklung von PrA INSOS zu PrA Schweiz, damit nicht alle denken, PrA werde ausschliesslich von Institutionen angeboten. Und damit vermehrt Unternehmen für dieses Ausbildungsmodell gewonnen werden können, auch in ländlichen Gegenden.

Es geht gar nicht darum zu werten, ob eine PrA in einer Institution oder in einem Unternehmen besser ist, sondern darum, jeweils die besten Wege und Lösungen zu finden: Vielleicht führt der Weg eines Lernen- den erst mit 35 aus einer Institution hinaus in den ersten Arbeitsmarkt. Aber dann war jeder Schritt wichtig.


Unser Gesprächspartner

Thomas Müller ist Direktor des Ausbildungszentrums Steinhölzli Bildungswege in Köniz BE, wo jährlich rund 70 Jugendliche zwischen 15 und 25 Jahren ausgebildet werden.

www.steinhoelzli.ch

Foto: Steinhölzli

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