Interview Fachkraefte

Ist unsere Branche noch attraktiv genug?

21. Januar 2019 / Barbara Lauber
Jedes Jahr verliert der Sozialbereich 13% der Fachkräfte. Drei im Jahr 2018 veröffentlichte Studien haben analysiert, was die Fachleute motiviert und was sie unzufrieden macht. Im Interview mit EHB-Studienleiterin Ines Trede und INSOS-Bereichsleiterin Verena Baumgartner beleuchten wir die Hintergründe der Fluktuation. Ein Gespräch über Arbeitszufriedenheit, Flexibilität und Anerkennung.

Frau Trede, jedes Jahr verliert der Sozialbereich 13 Prozent der Berufsleute. Ihre Laufbahnstudien zeigen nun aktuelle Gründe für deren Ausstieg oder Verbleib auf. Welche Ergebnisse haben Sie überrascht?

Ines Trede: Mich hat die Vielfalt der Gründe beeindruckt. Die Studien zeigen: Es ist nicht nur der Lohn oder der Stress oder die Belastung, die zur Abwanderung führen. Es ist vielmehr ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren, die je nach Alter, Beruf oder Lebenssituation unterschiedlich ins Gewicht fallen. Ein Hauptmotivator, im sozialen Beruf zu bleiben, ist die Freude an der Begleitung. Doch die Kehrseite ist: Die betreuerische Arbeit ist auch ein Ausstiegsgrund, wenn die Berufsleute mit ihr nicht mehr zufrieden sind.

Verena Baumgartner: Die Aussteiger erzählen beispielsweise, dass der Gestaltungsspielraum kleiner geworden sei. Hier müssen wir genau hinschauen. Denn als Branche sind wir darauf angewiesen, dass die Fachpersonen handlungsfähig sind. Und dass sie genügend Ressourcen haben, um Herausforderungen mit Kreativität zu meistern und die Menschen individuell zu begleiten.


Je unzufriedener eine Person mit ihrer Arbeit ist, desto stärker spielt sie mit dem Gedanken auszusteigen. Welche Faktoren sind für die Zufriedenheit entscheidend?

Trede: Die Zufriedenheit hängt insbesondere damit zusammen, inwiefern jemand seine Arbeit als sinnvoll erlebt, wie gut die Zusammenarbeit mit Vorgesetzten und im Team funktioniert und wie gross der Handlungsspielraum ist. In der Aussteigerbefragung hat sich gezeigt: Wenn diese drei Faktoren nicht stimmen, können mangelnder Lohn und fehlende Anerkennung beim Ausstiegsentscheid oftmals das Zünglein an der Waage sein.


Wann wird die Zusammenarbeit mit Vorgesetzten als negativ erlebt?

Trede: Eine negativ erlebte Zusammenarbeit mit Vorgesetzten verdoppelt die Kündigungsabsichten der Mitarbeitenden. Die Zusammenarbeit wird beispielsweise dann als schlecht erlebt, wenn Vorgesetzte aus Sicht der Befragten nur mangelhaft unterstützen.
Die Unzufriedenheit mit dem Team hängt vielfach mit einer unklaren Rollen- und Aufgabenteilung zusammen. Grund dafür sind oftmals sehr heterogene Teams, denen Fachpersonen mit unterschiedlichsten Abschlüssen, Praktikanten verschiedenster Ausbildungsgänge, Schnupperlehrlinge und Quereinsteigende angehören. Aussteiger kritisieren, dass der Überblick oft verloren gehe, wer was tue.


Was bedeutet dies für die Führungspersonen?

Baumgartner: Gerade Teamleitungen sind stark gefordert und stecken in einer Sandwich-Position: Sie erleben Druck von oben, beispielsweise in Form von zusätzlichen Vorgaben oder Sparmassnahmen. Und Druck vom Team, das wissen will, wie es all die Aufgaben umsetzen soll. Wir wissen noch zu wenig über diese Sandwich-Position und wollen das Thema im Verband nun differenziert anschauen.
Als entscheidenden Zufriedenheitsfaktor haben Sie den Gestaltungsspielraum genannt. Wie gelingt es Institutionen, Spielräume zu vergrössern oder zu eröffnen?

Trede: Im Team gilt es sorgfältig zu klären, welche Aufgaben es leisten muss, wer im Team für welche Aufgaben zuständig ist, welche Aufgaben delegiert werden und was frei gestaltbar ist. Gestaltungsspielraum hat auch viel mit Verantwortung zu tun. Die Daten weisen darauf hin, dass die Fachpersonen zwar Verantwortung übernehmen können, aber nicht unbedingt für das, was ihnen wichtig ist, sondern beispielsweise für administrative Arbeiten wie Dokumentation oder Controlling.


Doch gerade diese administrativen Arbeiten belasten zunehmend.

Baumgartner: Das stimmt. Die Berufsleute haben ihren Beruf gewählt, weil sie «mit Menschen arbeiten» wollen. Bei ihrer Arbeit erleben sie nun aber, dass sie auch Büroarbeiten machen müssen. Dies wird nicht oder nicht gerne als Teil der professionellen Rolle angesehen.


Lässt sich die Menge an administrativen Arbeiten beeinflussen?

Trede: Nur bedingt. Es sollte aber überprüft werden, welche Chancen die Digitalisierung bietet, um die administrativen Arbeiten zu vereinfachen. Ausserdem gilt es, den Mitarbeitenden bewusst zu machen, wie wichtig Dokumentation und Leistungserfassung für die Sichtbarkeit und Positionierung der eigenen Arbeit sein kann.

Baumgartner: Entscheidend ist, dass die administrativen Arbeiten der Qualität und Professionalität der Arbeit, insbesondere der Reflexion, dienen. Dadurch bekommen sie für die Berufsleute Sinn. Davon ausgehend ist dann zu prüfen, welche IT-Tools geeignet sind.


So oder so scheint die Belastung der Berufsleute zuzunehmen.

Trede: Die Belastung ist ein wichtiger Zufriedenheits- oder Ausstiegsfaktor. Die Belastungsgrenze gilt es deshalb im Auge zu behalten – gerade im Hinblick auf knappe zeitliche und finanzielle Ressourcen bei den Institutionen.

Baumgartner: Je nach Institution und Kanton ist der finanzielle Druck unterschiedlich gross. Grundsätzlich kann man aber sagen: Der Druck auf die Institutionen und aufs Personal wächst, die Alarmglocken beginnen zu läuten. Auf Kantonsebene ist deshalb ein gemeinsames Vorgehen der Institutionen wichtig. Wir als nationaler Verband prüfen, wie wir unsere Sektionen dabei unterstützen können. Wir brauchen gemeinsame gute Argumente und müssen sichtbar machen, welchen Wert eine gute Begleitung und qualifiziertes Personal haben. Und auch, dass wir einen wichtigen gesellschaftlichen Auftrag erfüllen. Es ist eine Realität, dass uns für unsere
Arbeit noch immer die gesellschaftliche Anerkennung fehlt.


Von mangelnder Anerkennung ist auch in der Aussteigerbefragung die Rede. Das lässt aufhorchen.

Trede: Tatsächlich sagen fast 60 Prozent der Aussteiger, mangelnde Anerkennung sei mit ein Grund für ihren Ausstieg. Hier gilt es genauer hinzuschauen: Von wem brauchen sie mehr Anerkennung? Je nach Fokus lassen sich unterschiedliche Massnahmen ableiten. Direkte Vorgesetzte beispielsweise können Anerkennung zeigen, indem sie Handlungsspielraum gewähren, die geleistete Arbeit wertschätzen und die Berufsleute unterstützen. Eine weitere Form der Anerkennung ist die Höhe des Lohns.


Die Fachkräftestudie von 2016 sagt einen sich abzeichnenden Fachkräftemangel voraus. Auf welchen Ebenen ist die Branche nun insbesondere gefordert?

Baumgartner: Der Kampf um die Lernenden wächst. Gute Ausbildungsplätze sind deshalb zentral. Zwar bildet unsere Branche bereits heute viele Menschen aus. Doch der sich abzeichnende Fachkräftemangel macht deutlich: Wir müssen noch mehr Leute ausbilden, um Abgänge und Pensionierungen aufzufangen.
Wollen wir zudem einen höheren Professionalisierungsgrad, müssen wir auch besonders gut ausbilden. Die Studien zeigen beispielsweise: Je besser Fachpersonen Betreuung begleitet werden, desto zufriedener sind sie – und desto eher bleiben sie.


Welche Rolle spielen in Zukunft Quereinsteigende?

Trede: Der Sozialbereich ist eine Branche der Quereinsteigenden. Das ist eine Chance. Arbeitnehmende, die beispielsweise mehr Sinn in ihrer Arbeit suchen und etwas Nützliches für die Gemeinschaft machen möchten, interessieren sich für diesen Bereich. Die entscheidende Frage lautet aber auch hier: Ist die Branche für diese Leute attraktiv genug? Unsere Studien zeigen: Die Quereinsteiger sind unzufriedener und werden eher benachteiligt, etwa durch befristete Arbeitsverträge und geringere Unterstützung bei der Weiterbildung.

Baumgartner: Es stimmt, Quereinsteigende sind für unsere Branche wichtig: Sie bringen Lebens- und Arbeitserfahrung mit. Entscheidend ist nun aber, dass die Institutionen mit ihnen früh klären, welche Nachqualifizierung passt. Und dass wir uns als Verband dafür einsetzen, dass es auf allen Bildungsstufen geeignete Angebote gibt.

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